Das Ergebnis der vergangenen Bundestagswahl stellte die in den Bundestag gewählten Parteien vor die schwierige Aufgabe, eine stabile Regierung zu bilden. Nachdem sich die Grünen unter Aufgabe ihres – ohnehin gering ausgeprägten – staatspolitischen Verantwortungsbewusstseins eine Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratischen Partei verweigerten, war aus der Sicht vieler politischer Beobachter eine Koalition zwischen Allianz und SDP die einzig realisierbare Option. Wir haben uns in einer, zuvorderst von den Grünen schuldhaft verursachten, schwierigen Lage dafür entschieden, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen und mit den Sozialdemokraten über eine gemeinsame Bundesregierung zu verhandeln. Es ist kein Geheimnis, dass zwischen beiden Parteien fundamentale, inhaltliche Unterschiede bestehen. Keiner Partei fiel es leicht, eigene Forderungen zurückzustellen und einen Koalitionsvertrag zu verhandeln, der Deutschland zum Besseren gestaltet und gleichzeitig mehrheitsfähig ist. Nach zähen, durchaus schwierigen Verhandlungen war es schließlich doch gelungen, ein konstruktives Regierungsprogramm zu vereinbaren und Deutschland aus dem politischen Stillstand zu befreien. Darauf können beide Parteien stolz sein. Der Koalitionsvertrag hatte den Weg zu einer konstruktiven Zusammenarbeit geebnet.
Die Sozialdemokratische Partei ist eine Partei, die sich um Deutschland verdient gemacht hat. Sie hat sich stets als linke Partei verstanden, doch war sie ungeachtet dessen in den wichtigen Stunden für unsere Republik bereit, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen und ideologische Positionen zu räumen. Spätestens mit den Geschehnissen in der gestrigen Nacht hat sich die Sozialdemokratische Partei gleichwohl von ihrer staatspolitischen Verantwortung verabschiedet und unser Land in eine Krise nicht zu unterschätzenden Ausmaßes gestürzt. Sachgrundlos hat die Partei unter Bundeskanzler Müller die noch junge Zusammenarbeit mit der Allianz beendet und dem Bundespräsidenten ohne vorangehende Absprache (!) mit dem Koalitionspartner alle Bundesminister der Allianz zur Entlassung vorgeschlagen. Dieses Verhalten enttäuscht uns in menschlicher Hinsicht; es ist aber auch politisch höchst unanständig und demokratiezersetzend. Unser parlamentarisches System lebt von Kompromissen und gegenseitigem Vertrauen. Es entsetzt, dass ausgerechnet die Partei, die sich – völlig zurecht – bei jeder Gelegenheit gegen eine Verrohung der gesellschaftlichen Sitten positioniert hat, allgemeingültige Gepflogenheiten „über Bord wirft“ und den Koalitionspartner der alleinigen Macht willen hintergeht. Es ist gar davon auszugehen, dass die nach außen signalisierte Offenheit für eine Große Koalition lediglich das Mittel zu dem Zweck sein sollte, einen Sozialdemokraten zum Bundeskanzler zu wählen. Diese arglistige Täuschung der Sozialdemokratischen Partei ist zutiefst abstoßend und zu verurteilen.
Klar ist am heutigen Tag, dass unser Vertrauensverhältnis zur Sozialdemokratischen Partei schwer und nachhaltig beschädigt ist. Wir werden in diesen Tagen in Ruhe über die notwendigen Konsequenzen beraten, die es angesichts des hinterlistigen Verrats der SDP sowohl auf der Bundesebene als auch in den Bundesländern zu ziehen gilt. Die SDP ist nicht länger eine staatstragende und verantwortungsbewusste Partei. Alle politischen Mitbewerber sind aufgefordert, dieses demokratiezersetzende Verhalten der Partei zu verurteilen. Das gilt nicht weniger für den Bundespräsidenten, der in der Vergangenheit keine Gelegenheit ausgelassen hat, sich aktiv in die Tagespolitik einzumischen. Der Bundespräsident setzte sich zu seinem früheren Verhalten in Widerspruch, würde er angesichts der beispielslosen Missachtung politischer Gepflogenheiten schweigen.
Friedrich Augstein
- Generalsekretär der Allianz -
Nachtrag:
Angesichts der jüngsten Stellungnahme des Bundeskanzlers möchte ich meine Stellungnahme wie folgt erweitern:
Der Bundeskanzler hat eingeräumt, die Koalition im Alleingang aufgekündigt zu haben. Der SPD-Parteivorstand war in diese Entscheidung nicht einbezogen und hat das Verhalten des Bundeskanzlers (intern) missbilligt. Ich möchte mich daher für meine recht harsch formulierte Kritik an der (gesamten) Sozialdemokratischen Partei entschuldigen. Sollte die Aufkündigung der Koalition vom Parteivorstand nicht mitgetragen worden sein, kann man ihn und die Partei auch nicht für diesen Schritt verantwortlich machen, zumal derzeit nicht erkennbar ist, dass sich die SDP die Entscheidung des Bundeskanzlers zu eigen macht. Was den Bundeskanzler betrifft, halte ich die Kritik in aller Schärfe aufrecht. Herr Müller hat mit seiner heutigen Stellungnahme einmal mehr gezeigt, dass er für politische Ämter vollends ungeeignet ist. Es bleibt abzuwarten, ob sich die Sozialdemokraten für die Geschehnisse der vergangenen Nacht zu entschuldigen und hinsichtlich der Person Müller Konsequenzen ziehen werden. Sobald sich die Partei geäußert hat, werden wir über die weiteren Schritte beraten können.