Pressemitteilung Nr. 6/2021 vom 17. März 2021

Präventive Ausgangssperre zum Infektionsschutz in Thüringen nichtig

Pressemitteilung Nr. 6/2021 vom 17. März 2021


zum Urteil des Obersten Gerichts vom 13. März 2021
3 BvF 6/20


Mit seinem Urteil vom 13. März 2021 hat das Oberste Gericht festgestellt, dass § 3b der dritten Thüringer Verordnung zur Fortschreibung und Verschärfung außerordentlicher Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der vom 22. Dezember 2020 bis zum 10. Januar 2021 geltenden Fassung mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig war.



Sachverhalt:


Der Antragsteller beantragte im Wesentlichen festzustellen, dass § 3b der dritten Thüringer Verordnung zur Fortschreibung und Verschärfung außerordentlicher Sondermaßnahmen zur Eindämmung einer sprunghaften Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in der vom 22. Dezember 2020 bis zum 10. Januar 2021 geltenden Fassung gegen das Grundrecht auf Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG), die Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG), das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG), den Parlamentsvorbehalt bzw. die Wesentlichkeitstheorie (abgeleitet aus Art. 20 Abs. 2, 3 GG), das verordnungsrechtliche Zitiergebot Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG, das verordnungsrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG) sowie Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG (Subdelegationen) verstößt.



Das Oberste Gericht entschied nun in seinem Urteil, dass die angegriffene Verordnung mit Artikel 2 Absatz 2 Satz 2, Artikel 20 Absatz 2 und 3, Artikel 80 Absatz 1 Satz 3, Artikel 80 Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Satz 1, Artikel 80 Absatz 1 Satz 4 in Verbindung mit Satz 1 sowie Artikel 103 Absatz 2 des Grundgesetzes unvereinbar und nichtig war.




Wesentliche Erwägungen des Senats:


1. Zur Zulässigkeit der Normenkontrolle:


Ein Normenkontrollantrag gegen eine bereits abgelaufene Rechtsnorm ist dann zulässig, wenn die Norm nur auf eine kurzfristige Geltung ausgelegt war und die Norm wegen Zeitablaufs außer Kraft getreten ist. Insbesondere die sog. Corona-Verordnungen sind regelmäßig nur auf kurze Geltungsdauer ausgelegt, müssen aber dennoch auf ihre Rechtsmäßigkeit überprüft werden können.




2. Zur Zulässigkeit der Ermächtigungsgrundlage:


Das Oberste Gericht prüft im Rahmen des abstrakten Normenkontrollverfahrens eine Rechtsverordnung betreffend auch die Vereinbarkeit der gesetzlichen Ermächtigung mit dem Grundgesetz. Die der angegriffenen Verordnung zugrunde liegende gesetzliche Grundlage aus § 32 i.V.m. §§ 28 ff. IfSG ist mit dem Grundgesetz vereinbar.


a) Die Ermächtigungsgrundlage ist mit Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG vereinbar. Nach diesem muss eine Ermächtigungsgrundlage nach ihrem Zweck, Inhalt und Ausmaß hinreichend bestimmt sein. Man muss also schon aufgrund der gesetzlichen Grundlage grob umreißen können, welchen Zweck die Verordnung verfolgen soll, welchen Inhalt sie haben könnte und welche Ausmaße von ihr ausgehen könnten. Jedoch kann der Gesetzgeber grundsätzlich auch sog. Generalklauseln (Auffangtatbestände) in förmliche Gesetze aufnehmen. Die Erfordernis der Bestimmtheit hängt daher maßgeblich von dem zu regelnden Sachbereich ab. Beim Infektionsschutzrecht als Spezialmaterie des Gefahrenabwehrrechts sind nur geringe Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage zugrunde zu legen, denen § 32 i.V.m. §§ 28 ff. IfSG gerade noch gerecht wird.


b) Die vom Bundesverfassungsgericht erarbeitete „Wesentlichkeitslehre“ besagt, dass der Gesetzgeber selbst die wesentlichen Fragen der Grundrechtsausübung (der staatlichen Eingriffe in die Grundrechte) zu regeln hat und diese nicht an die Exekutive delegieren darf. Für wesentliche Fragen die Grundrechte betreffend besteht daher ein sog. Delegationsverbot (Parlamentsvorbehalt). Jedoch ist der Grad der erforderlichen parlamentarischen Regelungsdichte auch abhängig vom zu regelnden Sachbereich. Insbesondere im Bereich der Infektionskrankheiten kann der Gesetzgeber nämlich nicht schon alle möglichen Entwicklungen im Voraus absehen und hinreichend regulieren. Daher ist die Ermächtigungsgrundlage aus § 32 i.V.m. §§ 28 ff. IfSG zwar hinsichtlich der Wesentlichkeitslehre und des Parlamentsvorbehalts zwar in Teilen zu beanstanden, aber aufgrund der Notwendigkeit eines solchen Auffangtatbestandes im Infektionsschutzrecht schließlich hinzunehmen.




3. Zur Verfassungsmäßigkeit der Verordnung:


a) aa) Art. 80 Abs. 1 Satz 4 GG erlaubt die Weiterübertragung der erteilten Verordnungsermächtigung durch Rechtsverordnung. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Gesetzgeber eine solche Subdelegation ausdrücklich zugelassen hat, was in § 32 Satz 2 IfSG geschehen ist. Jedoch ist eine solche Subdelegation in Thüringen nicht erfolgt, weshalb der Ministerpräsident nicht zum Erlassen der streitgegenständlichen Verordnung ermächtigt war. Es fehlt der Verordnung dabei an einer geeigneten Eingangsformel, die darauf hinweisen könnte, dass die Verordnung nicht durch den Ministerpräsidenten selbst, sondern durch die Staatsregierung als Kollegialorgan erlassen worden wäre.


bb) Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG schreibt vor, dass Rechtsverordnungen stets jene gesetzliche Ermächtigung benennen müssen, auf dessen Grundlage sie erlassen worden sind. Der angegriffenen Verordnung fehlt es jedoch gänzlich an einer Nennung jedweder gesetzlichen Ermächtigung, auf dessen Grundlage sie erlassen worden sein könnte.


cc) Der Verordnungsgeber hätte auch nicht auf die Verordnungsermächtigung aus § 32 IfSG zurückgreifen dürfen. Zwar ermöglicht § 32 i.V.m. §§ 28 ff. IfSG grundsätzlich die Möglichkeit zum Erlassen einer präventiven Ausgangssperre, jedoch darf auf diese Ermächtigungsgrundlage, da es sich bei ihr um die infektionsschutzrechtliche Generalklausel handelt, nur für einen bestimmten Übergangszeitraum zurückgegriffen werden. Auf gefahrenabwehrrechtliche Generalklauseln darf nämlich generell nur dann zurückgegriffen werden, wenn unvorhergesehene Ereignisse auftreten und der Gesetzgeber noch nicht dazu in der Lage war, geeignete Regelungen selbst vorzunehmen. Dieser Übergangszeitraum, in dem es dem Bundestag zuzumuten gewesen wäre, selbst konkretere Regulierungen zu beschließen (bzw. sog. Standardmaßnahmen in das Infektionsschutzgesetz aufzunehmen) ist jedoch nun bereits überschritten. Das Parlament war auch seit Beginn der Pandemie stets handlungsfähig und es liegen mittlerweile auch hinreichende wissenschaftliche Fakten vor, als dass eine grundlegende Beurteilung der Sachlage durch den Bundestag möglich gewesen wäre.


dd) Auch hinsichtlich der Wesentlichkeitslehre ist die Verordnung selbst nicht mehr mir Art. 20 Abs. 2 und 3 GG vereinbar. Die Verhängung einer präventiven Ausgangssperre stellt einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) dar und ist daher als wesentlich anzusehen, weshalb der Beschluss einer solchen Ausgangssperre dem Parlamentsvorbehalt unterlegen hätte. Es war dem Parlament schließlich auch zuzumuten, über die Einführung einer solchen Ausgangssperre zu entscheiden, da es sich bei Erlassen dieser Ausgangsbeschränkung nicht um eine Reaktion auf eine neue, unbekannte oder unvorhergesehene Gefahr handelte, als welche das Coronavirus nun eben nicht mehr anzusehen ist.



b) aa) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bezeichnet die Freiheit der Person als „unverletzlich“. Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, in welches nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. Mit dem Verbot, die eigene Wohnung zu verlassen, hat der Gesetzgeber die sich auf der hohen Bedeutung der Freiheit der Person ergebenen Grenzen für eine Einschränkung dieses Rechts überschritten. In dieser Sache ist, angesichts der Schwere und Intensität des Grundrechtseingriffs, dessen Nutzen nicht verlässlich dargelegt werden kann, gegen das Übermaßverbot (Eingriffe in die Grundrechte dürfen nur so intensiv sein, wie unbedingt notwendig) verletzt worden, weshalb der Eingriff in die Freiheit der Person nicht mehr angemessen ist.


bb) Auch die Bußgeldregelungen in der angegriffenen Verordnung stehen nicht mit dem Grundgesetz in Einklang. Sie verstoßen gegen das aus Art. 103 Abs. 2 GG folgende besondere Bestimmtheitsgebot. Der Adressat der Norm, in diesem Fall alle Bürger des Freistaates Thüringen, kann durch die angegriffene Norm nicht hinreichend deutlich und konkret entnehmen, welches Verhalten nun tatsächlich gegen die Ausgangsbeschränkung verstößt und welches nicht.



Das vollständige Urteil zum Nachlesen gibt es hier:

3 BvF 6-20 - § 3b Thüringer Coronaverordnung.pdf

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