[Aktuelle Stunde] XIX/002 - Reichspogromnacht 1938 - Verantwortung vor der Geschichte, Verantwortung für die Zukunft

  • Liebe Kolleginnen und Kollegen,


    die Fraktion der I:L und die Abgeordnete Evemarie Trautwein haben eine Aktuelle Stunde zum Thema "Reichspogromnacht 1938 - Verantwortung vor der Geschichte, Verantwortung für die Zukunft" beantragt.



    Gemäß §25 Absatz 1 der GO dauert diese 72 Stunden, also bis zum Sonntag, dem 12.11.23, um 19:05.


    Das Wort hat die Antragstellerin Evemarie Trautwein.

  • *geht in einem schwarz gekleideten Hosenanzug ans Rednerpult, trinkt einen Schluck und beginnt ihre Rede*


    Sehr geehrter Herr Präsident,

    Werte Kolleginnen und Kollegen,


    Der heutige Gedenktag aus Anlass der Novemberpogrome von 1938 ist ein besonderer. Unsere Gedanken sind bei den Menschen, die vor 85 Jahren entrechtet worden. Und sie sind ebenso bei den Opfern des Terrorangriffs vor wenigen Wochen in Israel. Der Terror der Hamas am 7. Oktober war eine Kriegserklärung. Nicht nur die Morde selbst, auch deren Brutalität und der öffentlich verbreitete Schrecken ist Teil der Kriegsführung der Hamas. Das Ziel waren Jüdinnen und Juden. Das Ziel war die israelische Zivilgesellschaft. Nicht nur Leben, sondern Vertrauen wurde durch Terror zerstört.

    Wir wollen, dass dieser Albtraum endet. Wir wollen, dass das Sterben und der Krieg enden. Wir trauern um die tausenden Toten, die es bereits nach nur einem Monat des Krieges in Israel und Gaza gibt. Wie kann man in dieser Situation zu einem Frieden kommen: Einem Frieden, der zugleich eine umsetzbare, eine staatliche Zukunft in der Region für die jüdische und die arabische Bevölkerung und alle anderen Gruppen garantiert? Dieser Frieden kann nicht gelingen, mit dem Kriegsziel der Hamas, Israel zu vernichten. Dieser Frieden kann nicht gelingen, wenn ein israelischer Minister mit der Atombombe droht.

    Dieser Frieden kann nur gelingen, wenn die moderaten Kräfte und die internationale Staatengemeinschaft Wege der Verständigung offenhalten. Und, diese Verständigung gelingt nur, wenn nicht nur die Israelis für eine demokratische und gewaltfreie Verfasstheit ihrer Gesellschaft kämpfen, sondern auch die Menschen in Gaza und im Westjordanland. Umso entsetzter sind wir, wie sehr der Krieg die Menschen polarisiert, auch hier in Deutschland. Wir müssen feststellen, dass es unterschiedliche Wahrheiten zu geben scheint. Wie Gewalt gegen Israel sowohl gefeiert wird als auch bestritten.

    Wie selbst die Verzweiflung der verschleppten Geiseln und ihrer Familien verhöhnt werden. Wir können sehen, dass Islamisten gezielt versuchen, die Stimmung zu eskalieren, auch um Muslime in Westeuropa auf die Seite der Radikalen zu ziehen. Wissenschaftlerinnen und Journalistinnen teilen mit, noch nie eine solche Flut von Propaganda und Falschmeldungen im Netz gelesen zu haben. 85 Jahre nach den Novemberpogromen müssen Menschen in Deutschland wieder Angst haben, als Juden öffentlich erkannt zu werden.


    Allein im dritten Quartal dieses Jahres wurden bisher 540 antisemitisch motivierte Straftaten polizeilich erfasst – etwa 100 mehr als im zweiten Quartal und fast 140 mehr als im selben Quartal des Vorjahres. Die wachsende Bedrohung seit dem 7. Oktober ist da schon eingerechnet. Die aktuelle Mobilisierung schafft neue Räume der Angst auf unseren Straßen. Jüdische Eltern lassen ihre Kinder trotz Schule nicht aus dem Haus. Bleib zu Hause, mein Kind, heißt es. Denn sie sollen nicht unterwegs sein, wenn in Berlin, Magdeburg oder auch in Essen gegen sie demonstriert und skandiert werden soll. Hochproblematisch ist, dass es nur wenige islamistische Symbole braucht, um das Bild der palästinensischen Solidaritätsbewegung nur eindimensional zu zeichnen.

    Das hilft denen, die die migrantische und die Mehrheitsgesellschaft noch weiter voneinander entfremden wollen. Deshalb sage ich, es ist nicht die Zeit sich Abzuwenden. Es ist Zeit, genauer hinzusehen, auch sicherheitspolitisch. Meinungs- und Versammlungsfreiheit enden dort, wo Leib und Leben anderer bedroht werden. Wir müssen uns auseinandersetzen, mit dschihadistischer Radikalisierung und ihren Motiven, - aber eben auch mit der Radikalität, mit der diese Gesellschaft Menschen anderer Herkunft herabsetzt.

    Wir müssen uns offensiv der Frage stellen: Welche Perspektiven wir wem eigentlich seit Jahrzehnten zugestehen. Die Verteidigung des Grundgesetzes fängt an – mit der Umsetzung des Grundgesetzes: Mit dem unterschiedslosen Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, zu Sicherheit und Rechtsschutz, zu Arbeit und Wohlstand. Der Haushaltsentwurf der Bundesregierung ist in dieser Hinsicht skandalös.

    Die knappe Hälfte der Bevölkerung in Deutschland hat Wurzeln im Ausland oder der DDR. 40 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren bundesweit haben einen migrantischen Familienhintergrund. Es ist Zeit, anders und neu über dieses Land zu erzählen. Bedenken wir: Nicht nur jüdische, auch muslimische Eltern sagen ihren Töchtern und Söhnen dieser Tage: Bleib zu Hause, mein Kind! Denn die meisten Menschen haben einen funktionierenden Kompass für Recht und Unrecht. Und genau diese befürchten, dass sowohl der Hass auf Juden, der Hass auf Muslime, als auch der Hass auf den Westen neues Futter bekommen. Wir dürfen nicht wegsehen und auch nicht nach dem 9. November einfach zur Tagesordnung übergehen!


    Die extremen Rechten sind dabei der lachende Dritte. Wir sehen dieser Tage, der Antisemitismus hat nichts verloren von seiner Niedertracht und seiner Kraft. Er schert sich nicht um Wahrheit, er schert sich nicht um Geschichte. Das vermeintlich Jüdische, das Kosmopolitische, das Westliche, das Liberale bleibt brauchbares Feindbild derjenigen, die Sündenbocke suchen und Schuldige brauchen. Die extremem Rechten haben die Meistererzählung nach 1945 erfunden: „Den Holocaust, den hat es nie gegeben.“ Mit einer solch infamen Botschaft eröffnete der rechtsextreme Täter in Halle an der Saale im Oktober 2019 seine Live-Übertragung ins Internet. Zwei Menschen erschießt er vor laufender Kamera. Er will ein Blutbad in der halleschen Synagoge anrichten, zu Jom Kippur. Entkommen ist die Gemeinde dem Tod nur dank einer festen Tür.


    In Sachsen-Anhalt hat man ebenso vor wenigen Wochen die Einweihung einer neuen Synagoge in Dessau gefeiert. Ein schöner, ein seltener Moment. Eine Manifestation jüdischen Lebens – nach langer Zeit. Man steht gleichzeitig aber weiter vor der Frage, wie man mit Judenhetze umgeht, wenn sie an der Wittenberger Schlosskirche hängt, um mal in Sachsen-Anhalt gerade zu bleiben. Vielleicht verstehen jetzt endlich mehr Menschen als bisher, warum Jüdinnen und Juden Herabsetzungen nicht länger akzeptieren wollen. Antisemitismus ist für sie kein kulturhistorisches Phänomen, sondern biographische Erfahrung.


    Die Novemberpogrome vor 85 Jahren waren eine von den Nazis inszenierte Gewaltexplosion. Die Botschaft des 9. November 1938 war brutal: Es gibt keinen sicheren Ort mehr für Juden im Deutschen Reich. 1941 wird die Pflicht zum Tragen des Judensterns eingeführt. Die Bedrängnis für die Betroffenen ist unvorstellbar. Schnell diskutieren die sogenannten Volksdeutschen darüber, wie man den Juden auch noch den letzten Zentimeter Freiheit streitig machen kann. Das Verbot der 1. und der 2. Klasse in den Bahnen und Zügen wäre schon ganz richtig, liest man in den Berichten der Geheimpolizei im Winter 1941. Aber wieso müssen in den Abteilen der 3. Klasse die Arbeiter die Plätze noch mit Juden teilen?

    Jüdische Männer würden zudem den Stern auf ihrer Kleidung mit hochgetragenen Aktentaschen verdecken, Frauen dies ebenso mit ihren Handtaschen tun. Es könne passieren, dass ein Deutscher ahnungslos, einen Juden von hinten anspreche, und dies erst beim Umdrehen realisiere. Man hat auch Vorschläge zur Abhilfe: Kurzum, ein Stern gehöre auf der Brustseite angebracht, und ein zweiter Stern gehöre auf den Rücken. Zwei Sterne trugen Juden bereits in den von den Deutschen besetzten Ostgebieten. Mit dem Überfall auf Polen und auf die Sowjetunion haben Massenmord und Völkermord begonnen.


    Was sollen wir heute tun, am 9. November 2023? Wir werden in den Synagogen und an den Gedenkplätzen sein. Wir werden der über 6 Millionen ermordeten Kindern, Frauen und Männer und den Verfolgten des Nationalsozialismus gedenken. Wir werden verstehen, dass Jüdinnen und Juden das Land Israel als den einen sicheren Ort auf der Welt brauchen. Bei den Veranstaltungen, die wir in unseren Wahlkreisen besuchen, können Menschen sein, die am 7. Oktober Angehörige und Freunde verloren haben. Menschen, die um die verschleppten Geiseln bangen. Wir stehen an ihrer Seite.


    Wir schützen all diejenigen, die dieser Tage auch bei uns in Bedrängnis geraten. Suchen wir den Kontakt mit denen, die Verständigung suchen, die aufmerksam sind, die kritisch sind gegenüber politischen Führern, die polarisieren und spalten. Seien wir behutsam mit unseren Gedanken und unseren Worten: Der Hass ist menschlich. Die Hoffnung ist es auch.


    *verlässt das Rednerpult unter Applaus der eigenen Fraktion und läuft in Richtung ihres Sitzplatzes*

  • Meldet eine Rede an.

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  • Sehr geehrter Herr Präsident,

    verehrte Kolleginnen und Kollegen,


    vielen Dank für die Initiative, Frau Kollegin Trautwein.


    Wie jedes Jahr an diesem Datum stehen wir heute hier und wollen gemeinsam den schrecklichen Ereignissen der Reichsprogrome gedenken. Eine Zäsur und spätestens Beginn des Niedergangs von Humanität und Freiheit gegenüber Juden im Deutschen Reich. Manch einer mag vielleicht sagen; 'Och nö nicht immer diese Selbstgeißelung ich kann's nicht mehr hören.' Und genau solche Reaktionen sind die Bestätigung wie wichtig die Erinnerungskultur auch weiterhin für Deutschland ist.


    Und einen solchen Wendepunkt in der Freiheit und dem Selbstverständnis von jüdischem Leben mussten wir am 7. Oktober wieder auf dieser Welt erleben.

    Nicht nur eine Infragestellung, nein sogar das offene Absprechen eines Existenzrechtes Israels und jüdischer Existenz. Und wir müssen feststellen - um das ganz klar festzuhalten - dass dies keine Einzelmeinungen radikaler Extremisten sind, sondern vielfach auf zumindest moderaten Konsens in der arabischen Welt treffen.

    Für uns als Deutsche kann unsere Historie nichts anderes bedeuten als: Wir sind nicht Schuld an dem was im Dritten Reich passiert ist, aber es liegt in unserer ganz besonderen Verantwortung, dass es nie wieder passiert.


    Wir erleben nun auf unseren Straßen in NRW und in ganz Deutschland, dass wir dieser Verantwortung bisher nicht gerecht geworden sind. Fünfundachtzig Jahre nach den Reichsprogromen werden auf unseren Straßen Vernichtungsfantasien offen geäußert und das Existenz- und Überlebens- somit gleichbedeutend Verteidigungsrecht Israels infrage gestellt und geleugnet. Marodierende Gruppen von Islamisten strömen durch Essen oder Neukölln und fordern die Vernichtung des einzigen jüdischen Staates. Menschen, die wir in großen Teilen bereitwillig in unser Land gelassen haben. Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund kann man nicht nur sagen, dass wir dem Schutz jüdischen Lebens bisher nicht nur nicht stark genug umgesetzt haben, nein wir haben zugesehen und von manchen politischen Seiten aktiv befördert Antisemitismus importiert und ignoriert. Und es ist nun endgültig an der Zeit, dass wir diese Wahrheit akzeptieren und korrigieren.


    Antisemitismus und die Verachtung oder Existenzabsprechung jüdischen Lebens hat in Deutschland keinen Platz und wird von uns gemeinsam bekämpft werden. Wer jüdisches Leben oder das Existenzrecht Israels negiert hat in diesem Land nichts verloren. Da gibt es kein wenn und kein aber.


    Frau Kollegin Trautwein,

    in Ihrer Rede vermisse ich doch ein klares Bekenntnis zum Verteidiungsrecht Israels. Sie sprechen selbst von einer Kriegserklärung und dann am Ende allen Ernstes von "suchen wir den Kontakt mit denen die Verständigung suchen"? Für Antisemitismus gibt es keine Verständigung, er ist schlichtweg nicht mit der freiheitlich demokratischen Grundordnung und dem deutschen Selbstverständnis nicht vereinbar. Wir als Landesregierung und als CDSU stehen fest und unerschütterlich an der Seite des jüdischen Lebens und dem Staat Israel. Dazu gehört selbstverständlich das Recht - und die Pflicht den Bürgern gegenüber - sich gegen Angriffe und Terror zu verteidigen. Die Menschen und die Gesellschaft sind vor 85 Jahren gescheitert, das dürfen wir kein zweites Mal zulassen. Und das werden wir nicht.


    Wir als Bürger und als Nordrhein-Westfalen stehen ein für die Verteidigung jüdischen Lebens in und außerhalb Deutschlands, gegen Hass und Extremismus, für Menschlichkeit, Sicherheit und Liebe.


    Dankeschön.

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  • Bernd Hacke

    Hat das Thema geschlossen