[Debatte] XI/024 - Entwurf des Gesetzes zur Förderung des Solidaritätsprinzips der Sozialversicherungen

  • Verehrte Kolleginnen und Kollegen,


    Herr Bundesratspräsident Sebastian Fürst hat mir mit Schreiben vom Mittwoch folgenden Entwurf aus dem Reihen des Bundesrates zur Kenntnis gebracht.

    Drucksache XI/024 - Entwurf des Gesetzes zur Förderung des Solidaritätsprinzips der Sozialversicherungen

    Über diesen wollen wir nun debattieren.


    Die Debatte wird drei Tagen dauern [Ende: 16.05.2022 - 08:45 Uhr]


    | Präsident des Deutschen Bundestages a.D. (11. + 15. LP) |

    | Stellvertreter der Bundeskanzlerin a.D. |

    | Bundesminister für Wirtschaft und Energie / Arbeit und Soziales / des Auswärtigen a.D. |

    | Minister für Wirtschaft und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen a.D.|

    | Landtagspräsident Nordrhein-Westfalen a.D. (12.LP)|

  • *der Bundesminister für Arbeit, Soziales, Familie, Generationen und Gleichstellung tritt ans Rednerpult*


    Sehr geehrter Herr Präsident,

    werte Kolleginnen und Kollegen,


    die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Sozialversicherung begrenzt das Solidarprinzip auf kleine und mittlere Einkommen. Wer gut verdient, zahlt mit steigendem Einkommen einen immer geringeren Anteil seines Einkommens an Kranken- und Pflegeversicherung. Durch die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze würde der Beitragssatz sinken. Das würde gering und durchschnittlich Verdienende entlasten. Gutverdienende Angestellte können sich derzeit sogar vollständig aus der Solidarität mit Geringverdienenden verabschieden und in eine private Krankenversicherung wechseln. Ein hohes Einkommen hängt durchschnittlich mit besserer Gesundheit zusammen. Das führt dazu, dass die private Kranken- und Pflegeversicherung Angestellte mit höherem Einkommen und besserer Gesundheit versichert als die gesetzliche. Daher werden gutverdienende Angestellte in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen. Die Pandemie zeigt gerade deutlich auf, wie wichtig die gesetzlichen Sicherungssysteme für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Funktionieren der Gesundheitseinrichtungen sind. Im Gegensatz zu den privaten Versicherungen sind die gesetzlichen politisch steuerbar und nur so sind Unterstützungsmaßnahmen beispielsweise für Krankenhäuser, Arzt- und Zahnarztpraxen, Physiotherapie und andere Gruppen möglich. Auch deshalb ist es geboten, die genannten Regelungen zu ändern, die derzeit die Privatversicherung bevorteilen.


    Die Pflichtversicherungsgrenze und die Beitragsbemessungsgrenze hängen eng zusammen. Sie waren bereits bei der Einführung der Gesetzlichen Krankenversicherung ein konstitutives Element. Sie betrugen ab 1884 bis fast zum ersten Weltkrieg 2.000 Mark im Jahr, etwa das 2,25-fache des Durchschnittslohns der Versicherten im Jahr 1904. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte wurde sie gemessen am Durchschnittsverdienst stetig gesenkt und dann 1970 auf das 1,5-fache des Durchschnittsverdienstes festgelegt und dynamisiert. Seit 2003 liegt die Versicherungspflichtgrenze leicht oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze. Hintergrund der Einführung der Versicherungspflichtgrenze war im vorletzten Jahrhundert, dass nur die „Schutzbedürftigen“ versicherungspflichtig und damit unter den „Schutz“ der Krankenversicherung gestellt wurden. Dies galt auch nur für bestimmte Berufsgruppen. Heute, 136 Jahre später, verpflichtet der Staat alle in Deutschland lebenden Menschen, eine Krankenversicherung abzuschließen. Insofern wird heute für alle eine Schutzbedürftigkeit angenommen. Das ist auch insofern nicht verwunderlich, als dass die Leistungen heute ganz andere sind als damals. Damals ging es darum, vor allem durch das Krankengeld die drohende Verelendung im Krankheitsfall abzumildern, heute werden grundsätzlich alle medizinisch benötigten Leistungen bezahlt. Auf einen einzelnen Versicherten können heute im Krankheitsfall pro Jahr siebenstellige Millionenbeträge anfallen. Es ist davon auszugehen, dass nur ein verschwindend kleiner Anteil der Bevölkerung dies selbst zahlen könnte. Die heutige Versicherungspflicht für alle ist daher konsequent und richtig; sie ist aber inkonsequent umgesetzt, da gutverdienende Angestellte sich auch privat versichern können. Eine Absicherung vorwiegend der Gering- und Durchschnittsverdienenden in der gesetzlichen Krankenversicherung schwächt diese unnötig. Für ihre (bessere) Funktionsfähigkeit ist es geboten, diese unsinnige Aufteilung nach 136 Jahren zu reformieren.


    Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,


    im Gegensatz zum Steuersystem, in dem es eine progressive Belastung gibt, bewirkt die Beitragsbemessungsgrenze bei Kranken- und Pflegeversicherung, dass bei Versicherten mit höherem Einkommen der Beitragssatz in Prozent niedriger ausfällt als bei Geringverdienenden. Durch die Absetzbarkeit der Beiträge von der Steuerlast wird diese sozialpolitisch völlig verfehlte Wirkung sogar noch verstärkt. Wenn die Beitragsbemessungsgrenze abgeschafft wird, bedeutet das unterm Strich eine Entlastung für die allermeisten Versicherten – selbst für diejenigen, die derzeit ein Einkommen knapp über der Beitragsbemessungsgrenze haben. Lediglich diejenigen, die mehr als einige hundert Euro über der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit 4687,50 Euro liegen, zahlen mehr als bisher. Die Beitragsbemessungsgrenze wird oft verteidigt, weil sie dem von ihren Verteidigern ins Feld geführten Äquivalenzprinzip entspräche. Dem ist entgegenzuhalten, dass es das Äquivalenzprinzip in der Krankenversicherung nahezu nicht mehr gibt. Während nach Gründung der gesetzlichen Krankenversicherung das lohn- und beitragsabhängige Krankengeld mit die wichtigste Leistung war – es gab keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – hat das Krankengeld heute nur noch einen Anteil von rund 6 Prozent an den Ausgaben. Eine weitere wichtige lohn- und beitragsabhängige Leistung war damals das Sterbegeld. Dieses ist schon seit rund 15 Jahren abgeschafft. Die übrigen Leistungen erhalten die Versicherten bedarfsabhängig und unabhängig davon, wie viel Beiträge sie leisten. Das Argument des Äquivalenzprinzips trägt also nicht mehr. Umgekehrt hat die Beitragsbemessungsgrenze aber viele negative Effekte auf die Krankenversicherung. Durch sie gehen Beitragsgelder ausgerechnet von Gutverdienenden verloren. Diese Löcher stopfen beispielsweise kranke Menschen, die auf ärztlich verordnete Leistungen Zuzahlungen leisten müssen oder diejenigen, deren benötige Leistungen die Kasse nicht übernimmt, wie z. B. Brillen oder Zahnersatz. Gäbe es keine Beitragsbemessungsgrenze und die Ausgaben wären gleich, läge der Beitragssatz niedriger als derzeit. Berechnungen (z. B. Rothgang et al, 2010, 2017) gehen davon aus, dass der Beitragssatz dann über einen Prozentpunkt niedriger läge. Die Beitragsbemessungsgrenze verursacht zudem Probleme bei der Gleichstellung der Geschlechter. Ein Einverdienerhaushalt mit zwei Verheirateten und einem Einkommen von 12.000 Euro zahlt nur halb so viel in die Kranken- und Pflegeversicherung ein wie ein entsprechender Zweiverdienerhaushalt mit jeweils 6.000 Euro. Eine praktikable Lösung für dieses Problem, das nicht neue Probleme verursacht, wäre einzig die Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze. Die in diesem Antrag geforderten Regelungen stellen einen Schritt in Richtung einer Solidarischen Gesundheits- und Krankenversicherung bei Abschaffung der privaten Krankenversicherung dar.


    Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen und stehe Ihnen für Fragen zum Antrag gerne zur Verfügung.


    Vielen Dank

  • DIe Aussprache ist beendet.

    | Präsident des Deutschen Bundestages a.D. (11. + 15. LP) |

    | Stellvertreter der Bundeskanzlerin a.D. |

    | Bundesminister für Wirtschaft und Energie / Arbeit und Soziales / des Auswärtigen a.D. |

    | Minister für Wirtschaft und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen a.D.|

    | Landtagspräsident Nordrhein-Westfalen a.D. (12.LP)|