Ein Tag wie jeder andere


Ein feuchter Herbstmorgen, wie jeden Tag. Ich stehe auf, öffne das Fenster. Ein kalter Wind bläst mir entgegen. In der Ferne ist ein Martinshorn zu hören. Ein neuer COVID-Patient für die Intensivstation? Vielleicht. Ich schlurfe im Morgenmantel durch den Flur in die Küche. Während der Kaffee kocht, plätschern die Nachrichten im Radio vor sich hin. Wieder 50.000 Neuinfizierte gestern. Nichts Neues. Weiter keine neuen Informationen zu den Koalitionsverhandlungen. Nichts Neues. Bayern hat gewonnen. Nichts neues. Das Wetter bleibt kalt und feucht. Auch nichts Neues.


Während ich mir mit dem heißen Kaffee die Zunge verbrenne, wage ich einen Blick auf mein Smartphone. Auf Twitter keifen sich Rechte und Linke mal wieder an. Ein uninformierter Hamburger Bürgermeister muss sich vom gereizten Vize-Chef der Allianz belehren lassen, der von einem Polit-Pensionär seinerseits darauf aufmerksam gemacht wird, dass die Allianz in Bayern doch keinen Deut besser sei. Ein Kater, der sogar Ministerpräsident zu sein scheint, meint dazu, der Landesverband Bayern habe eine inhaltlich abweichende Ausrichtung. Abweichend offensichtlich vor allem von der Rechtsprechung. Ein scheinbar gekränkter Noch-Kanzler kritisiert seine eigenen Ex-Kolleginnen und Kollegen – daraufhin ein ebenso so unqualifizierter wie nicht staatsmännischer Kommentar des bayerischen Ministerpräsidenten. Ein ehemaliger Grüner beklagt sich – wie gefühlt jeden Tag – über das Freiheitliche Forum und über – wieder mal – gleichermaßen populistische wie vor Unwissenheit strotzende Aussagen des FFD-Generalsekretärs. Schließlich fordert der bayerische Ministerpräsident endlich die Liberalisierung wirksamer Waffen gegen das Coronavirus. Ich setze meine Brille auf. Pardon, gegen Menschen. „Wird Bayern mittlerweile eigentlich von Twitter aus regiert?“, frage ich mich.


Ich nehme einen weiteren Schluck von meinem Kaffee und verziehe das Gesicht. Der ist total ausgekühlt! Ich schaue auf meine Uhr. Schon so spät?! Ich werfe mir meinen Mantel über und hetze zum Bus. Der ist – wie immer – rappelvoll. Eine junge Dame mit knallrotem Mantel telefoniert unangenehm laut. Man kann gar nicht weghören. „Was ist das zwischen uns noch? Jetzt hast du mich schon zum drittem Mal versetzt. Erst verbringst du deine Zeit lieber mit Thomas, dann sagst du, du willst lieber alleine sein? Sag mir doch, was los ist!“ Ein älterer Herr hinter mir hustet. Ich erschrecke, schaue mich verunsichert um und gehe sicherheitshalber zwei Schritte weiter nach vorne. Man weiß ja nie. „Warum sagst du mir nicht, was dich stört? Erst tust du so als sei alles super und dann lässt du mich hängen!“, tönt es weiter durch den Bus. Ich bin froh als ich aussteigen kann.


Ich schlendere über den Gehweg in Richtung Büro. Ich komme an einem Spielplatz vorbei. Ein Junge mit brauner Jacke sitzt im Sandkasten und weint. „Warum will niemand mit mir spielen?“, schreit der Junge und wirft gleichzeitig wie wild mit Sand um sich. „Kein Wunder“, denke ich mir. Im Büro angekommen begrüßt mich unsere Sekretärin. „Na, was erzählst du heute so?“, fragt sie. „Nichts Neues.“


In den nächsten Stunden versinke ich in den Weiten der Finanzbuchhaltung. Buchungssätze, Bilanzen, Gewinn- und Verlustrechnung. Klingt trocken. Es ist noch viel trockener. Dennoch bin ich in diesen Zeiten froh, einen so entspannten wie langweiligen Job zu haben. Meine Gedanken schweifen ab, an eine Dokumentation, die ich kürzlich gesehen habe – zur aktuellen Corona-Lage natürlich, worüber sonst? Ich erinnere mich an die Bilder, aber noch mehr an die Stimme eines verzweifelt wirkenden Intensivpflegers. „Wenn wir einen COVID-Kranken intubieren müssen, ist seine Überlebenschance 50:50. Wir müssen das den Patienten dann auch so sagen. Wir sagen ihnen, verabschiedet euch von euren Freunden und Verwandten. Und wir sehen tagtäglich diese Angst, die in diesem Moment im Auge des Patienten erscheint. Dieser Blick, den die Patienten dir flehend zuwerfen, bevor du sie intubierst, wenn sie wissen, dass ihre Chancen 50 zu 50 stehen. Diese Verzweiflung und das Anflehen, dass du sie wieder aus dem Koma holen sollst – das vergisst du nicht einfach so wieder. Das beschäftigt dich, das beschäftigt dich immer wieder.“ Ich merke, wie ich Gänsehaut bekomme und atme drei Mal tief durch. Diese Szene hat mich bewegt, hat mir klar gemacht, was für einen unglaublichen Job die Ärzte und Pflegekräfte in den Krankenhäusern leisten. Gleichzeitig überkommt mich eine ungemeine Wut. Wut über all jene, die noch immer behaupten, dieses Virus gäbe es nicht. Wut über all jene, die sich weiter weigern sich impfen zu lassen. Wut über all jene, die den Ernst dieser Lage und dieses Leid nicht erkennen, was sie damit mitzuverantworten haben. Ich schlucke meinen Ärger runter und beginne wieder, mit den Zahlen im Buchhaltungssystem zu jonglieren. Immerhin muss ich nur mit Zahlen jonglieren, nicht mit Menschenleben.


Mittagspause. Nach Gesellschaft beim Mittagessen ist mir heute nicht zumute, deshalb entschließe ich zum Griechen nebenan zu gehen. Ich komme wieder am Spielplatz vorbei. „Ihr seid jetzt meine besten Freunde!“, posaunt ein selbstbewusster Junge im grünen Pullover. Ein weiterer Junge mit einer für einen Jungen uncharakteristisch pinken Mütze ist sichtlich erfreut über diese Aussage: „Darf ich dann auch mit deinem Spielzeug spielen?“ Der dritte Junge ist seltsam gekleidet. Er trägt eine Piratenmütze und eine Augenklappe. Heute steht wohl Pirat-Spielen auf der Tagesordnung. Er ist aber wohl etwas skeptischer. „Wir kennen uns doch erst zwei Tage…“, sagt er etwas kleinlaut. „Das ist doch egal, ihr seid viel netter als meine anderen Freunde. Die haben nie was mit mir gemacht und waren voll doof!“ Damit scheint die Debatte beendet zu sein.


Zurück im Büro zoffen sich zwei Kollegen. „Du hast meinen Vorschlag einfach abgelehnt und ich soll deine Idee jetzt einfach so unterstützen? Wo ist das bitte fair?!“ Ich will schon möglichst schnell an den beiden vorbeihuschen, als der Chef plötzlich aus seinem Büro gestürmt kommt. „Wozu habe ich euch beide denn für diesen Job ausgewählt, wenn ihr euch nicht mal bei dieser Sache einig werden könnt? Das geht jetzt schon seit Tagen so, mir reicht es!“ Die Situation wird mir immer unangenehmer und so entscheide ich erstmal in die Kaffeeküche abzubiegen, um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen. „Weißt du was, wir machen es so, wie du am Anfang gesagt hast, dafür bekomme ich den Azubi unter meine Fittiche.“ „Gut, dann machen wir das so.“ Der Konflikt scheint sich gelegt zu haben – schneller als gedacht. Ich nehme meine Tasse Kaffee und gehe zügig in mein Büro. Weiter jonglieren.


16 Uhr – und es wird schon wieder finster. Nichts Neues. Ich packe meine Sachen und begebe mich wieder zur Bushaltestelle. Ein älterer Herr wartet mit mir. Er trägt eine auffällig orange Jacke – untypisch, aber modern. Der Herr spricht mich an und fragt, ob der Bus denn in Richtung Ostbahnhof fährt. Ich bejahe. Er fängt an zu erzählen. Er will nach Berlin, alte Freunde besuchen. Theo, so hieß der Mann, erzählt, wie toll es mit seinen Freunden früher gewesen sein soll. „Wir waren nicht immer einer Meinung, aber haben uns immer ausgesprochen. Es ging da auch mal härter zur Sache, aber das war ganz normal. Die jungen Leute heute sind Weicheier. Wenn man da mal ein falsches Wort sagt, sind die gleich beleidigt. Früher hat man sich mal ordentlich geprügelt und gut war.“ Ich muss schmunzeln und stimme dem Herrn höflich zu. Im Bus setzt er sich neben mich und erzählt weiter: „Wissen Sie, ich war früher mal Anwalt. Streiten war quasi mein Job. Manchmal wusste ich, dass mein Mandant eigentlich nicht im Recht ist. Ich habe dennoch weiter gekämpft und argumentiert, als sei ich mir sicher, dass das Gegenteil der Fall gewesen sei. Oft genug habe ich solche Fälle gewonnen. Glauben Sie mir, wenn es um Menschen geht, weiß man nie, was passiert. Auch wenn die Situation noch so aussichtslos scheint, mit Überzeugung und einer großen Portion Selbstvertrauen kann man manchmal echte Wunder bewirken“. Der Herr zwinkert mir zu und steigt kommentarlos aus. Ich bleibe baff zurück. Was wollte er mir damit jetzt sagen?


Diese Frage zu beantworten versuchend hätte ich beinahe vergessen auszusteigen. Aber auch zu Hause angekommen konnte ich mir noch keinen Reim darauf bilden. Ich bereite mir ein schnelles Abendbrot zu und steige in die Dusche. Während das warme Wasser meinen Kreislauf anregt erinnere ich mich plötzlich, dass ich noch meine Mutter anrufen wollte. „Na, mein Junge, wie geht es dir? Ich würde dir ja gerne was erzählen, aber hier ist momentan totale Flaute. Vor einigen Tagen ist hier so ein junger Mann eingezogen. Einen feuerroten Ferrari hat der – der ist bestimmt steinreich. Ich hab‘ gehofft, dass der ein wenig Leben in die Bude hier bringt, aber er hat sich noch nicht mal ordentlich vorgestellt. Aber weißt du was? Ich glaube er hat die zwei seltsamen Typen vertrieben, von denen ich dir erzählt habe. Die, die im zweiten Stock wohnten. Das waren vielleicht gruslige Gestalten. Ich bin denen immer aus dem Weg gegangen, weil ich Angst vor denen hatte. Einer tat immer so scheinheilig freundlich, aber der hatte eine sehr negative Ausstrahlung, das habe ich gespürt. Der Typ war richtig gefährlich!“ Ich rolle die Augen nach oben. Die Horrorszenarien, die sich meine Mutter immer wieder ausmalt, kenne ich nur zu gut.


Nach dem Telefonat lege ich mich auf das Sofa und schalte den Fernseher ein. Die Tagesschau läuft: Wieder 50.000 Neuinfizierte gestern. Nichts Neues. Weiter keine neuen Informationen zu den Koalitionsverhandlungen. Nichts Neues. Bayern hat gewonnen. Nichts neues. Das Wetter bleibt kalt und feucht. Ein Tag wie jeder andere eben.

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