XII/014 | Einspruch gegen den Ordnungsruf vom 14.07.2022 gegen die Abgeordnete Christ

  • Soll dem Einspruch der Abgeordneten Christ auf Drs. XII/014 stattgegeben werden? 8

    1. Ja (2) 25%
    2. Nein (5) 63%
    3. Enthaltung (1) 13%

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    Präsident des Deutschen Bundestages

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    Liebe Kolleginnen und Kollegen,


    die Abgeordnete Dr. Irina Christ hat fristgerecht Einspruch gegen einen von mir am gestrigen Tage verhängten Ordnungsruf erhoben. Da die Behandlung eines solchen Einspruches nicht alltäglich in diesem Haus ist, darf ich Sie alle kurz über den Ablauf informieren.


    Der schriftliche Einspruch der Abgeordneten gegen den Ordnungsruf liegt auf Drs. XII/014 vor.

    Nach § 11 unserer Geschäftsordnung hat der Deutsche Bundestag in 24-stündiger, geheimer Abstimmung zu entscheiden, ob er dem Einspruch stattgibt oder nicht. Wird dem Einspruch stattgegeben, ist der Ordnungsruf unwirksam. Wird dem Einspruch nicht stattgegeben, erlangt der Ordnungsruf Wirksamkeit. Auf dem Schriftsatz der Abgeordneten können Sie die Begründung nachlesen, warum Sie den von mir erteilten Ordnungsruf für nicht gerechtfertigt hält.


    Ich eröffne hiermit also die 24-stündige, geheime Abstimmung über den Einspruch.




    60x60bb.jpgDeutscher Bundestag

    Zwölfte Wahlperiode



    Drucksache XII/014


    Einspruch

    der Abgeordneten Dr. Irina Christ



    gegen den Ordnungsruf gegen die Abgeordnete Dr. Irina Christ vom 14.07.2022, Debatte zum Antrag auf Drucksache XII/009



    Der Deutsche Bundestag möge gemäß § 11 GO-BT beschließen:


    Der Ordnungsruf gegen die Abgeordnete Dr. Irina Christ, der am 14.07.2022 durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages - Matthias Linner - in der Debatte zu dem Beschlussantrag auf Drucksache XII/009 zu dem Thema "Ghana und der Senegal sind keine sicheren Herkunftsländer!" verhängt worden ist, wird aufgehoben.


    Begründung:


    1. Der Einspruch ist zulässig. Er wurde nach § 11 I GO-BT fristgerecht erhoben; eine Begründung wurde beigefügt. Die Einspruchsführerin ist als durch den einspruchsgegenständlichen Ordnungsruf Betroffene auch einspruchsberechtigt.


    2. Ordnungsmaßnahmen durch das Präsidium berühren einzelne Abgeordnete bereits in ihrer Redefreiheit aus Artikel 38 I Satz 2 GG und sind daher unweigerlich als ultima ratio zu verstehen, die einer besonderes Legitimation bedarf.


    a) Aus Artikel 38 I Satz 2 GG ist die Abgeordnetenfreiheit für Mitglieder des Deutschen Bundestages abzuleiten. Sie ist insoweit bedeutend, als dass es ihrer bedarf, damit Mitglieder des Deutschen Bundestages als durch das Volk gewählte Vertreter*innen ihrer Aufgabe als gewählte Volksvertretung bestmöglich nachkommen können. Wie bereits durch das Bundesverfassungsgericht festgestellt wurde, geht mit ebenjener Abgeordnetenfreiheit ein Rederecht im Deutschen Bundestag einher (vgl. BVerfGE 10, 4 <12>; 60, 374 <380>; Magiera, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Artikel 38 Rn. 63). Hierbei handelt es sich um eine Rechtsposition, die für eine Demokratie zur Wahrnehmung parlamentarischer Aufgaben unabdingbar ist (vgl. BVerfGE 60, 374 <380>).


    b) In die Rede- und damit Abgeordnetenfreiheit darf in Anbetracht der Bedeutung dieser Rechtsposition nur eingegriffen werden, wenn dies notwendig ist, um sicherzustellen, dass der Deutsche Bundestag seinen Aufgaben nachkommen kann. Insoweit ist ein Eingriff als unweigerlich als ultima ratio zu verstehen.


    c) Ein solcher Eingriff liegt bereits vor, wenn Ordnungsmaßnahmen - darunter Wortentzug und Ordnungsrufe - verhangen werden (vgl. BVerfGE 10, 4 <12>; 60, 374 <Rn. 22>). Schließlich ebnet bereits ein Ordnungsruf im Sinne des § 9 I Satz 2 GO-BT den Weg zum Wortentzug nach § 9 II GO-BT und zwingt eine Rednerin oder einen Redner bereits dazu, sich in ihren Aussagen zu beschränken, wodurch bereits in zweierlei Hinsicht in die aus Artikel 38 I Satz 2 GG abzuleitende Redefreiheit einzelner Abgeordneter eingegriffen wird.


    3. Nach diesen Maßstäben hat der Präsident des Deutschen Bundestages bereits aus verfassungsrechtlicher Perspektive ultra vires gehandelt. Der Ordnungsruf hätte nicht erteilt werden dürfen und unterliegt der Aufhebung.


    a) Die Einspruchsführerin hat im Laufe der genannten Bundestagsdebatte verlangt, einen Ordnungsruf gegen den Abgeordneten Christian von Wildungen zu verhängen, da er - dem Kontext nach - queere Personen durch die Bezeichnung als "Abartige" diskriminiert und entmenschlicht hat. Daraufhin hat der Präsident des Deutschen Bundestages, nachdem er den Abgeordneten Christian von Wildungen mit einem Ordnungsruf belegt hat, gegenüber der Einspruchsführerin ausgeführt, sie sei nicht befugt, sitzungsleitende Maßnahmen zu fordern oder zu kommentieren. Nach einem Einwand der Einspruchsführerin mit Blick auf die in Artikel 38 I Satz 2 GG verbürgte Redefreiheit einzelner Abgeordneter wurde der Ordnungsruf am Abend des 14.07.2022 durch Bundestagspräsident Dr. Matthias Linner erteilt. Die Sitzungsleitung sei Aufgabe des amtierenden Präsidiums.


    b) Der Bundestagspräsident verkennt, dass die Disziplinar- oder Ordnungsgewalt - mithin Bestandteil der Geschäftsordnungsautonomie (vgl. BVerfGE 10, 4 <13>; 44, 308 <314f.>; 60, 374 <Rn. 21>), die den verfassungsrechtlichen Beschränkungen unterliegt - nicht durch das Bundestagspräsidium, sondern durch das Plenum getragen wird (vgl. BVerfGE 60, 374 <Rn. 21>). Die Diszplinar- oder Ordnungsgewalt wurde dem Präsidium lediglich übertragen (vgl. BVerfGE 60, 374 <Rn. 21>).Gleichwohl vermag dem amtierenden Bundestagspräsidenten die Disziplinar- oder Ordnungsgewalt - etwa durch Abwahl - entzogen werden zu können. In Anbetracht dessen, nicht, ohne auf die Autonomie des Bundestages zur Bestimmung des Präsidiums zu verweisen, ist schon zu schlussfolgern, dass das Bundestagspräsidium keinen Anspruch auf kritiklose Sitzungsleitung hat.


    aa) Es ist schon nicht ersichtlich, warum dies nicht schon in der laufenden Plenarsitzung der Fall sein kann. Vielmehr erscheint die Möglichkeit zur Kritik auch während laufender Plenarsitzung geboten. Schließlich gilt es, die Möglichkeit zur Ausübung des freien Mandates nach Artikel 38 I Satz 2 GG durchzusetzen. Im Zuge dessen erscheint es geboten, dass Abgeordnete jedwede Maßnahmen, auch Ordnungsrufe, die zur Aufrechterhaltung der Arbeitsfähigkeit geboten sind, fordern können müssen - gerade, wenn das Präsidium nicht die zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages gebotenen Maßnahmen ergreift. Ebenso gilt dies auch für anderweitige Kritik an der Art und Weise der Sitzungsleitung des Präsidiums.


    bb) Ferner wird auch durch die einschlägigen Vorschriften der Geschäftsordnung kein ausdrückliches Verbot, Ordnungsmaßnahmen zu fordern oder sonstige Kritik an sitzungsleitenden Maßnahmen üben zu können, statuiert. Dies gilt dem Sinne des § 9 I Satz 3 GO-BT nach erst für in der Vergangenheit anderen Mitgliedern des Bundestages erteilte Ordnungsrufe. Auch taugt - als Randbemerkung - der Einwand des Präsidenten, jedwede Kritik an Ordnungsmaßnahmen sei nach § 9 I Satz 2 GO-BT unzulässig, nicht, wurde dies doch erst für nachfolgende Redner*innen bestimmt. Kritiken über die Frage, ob die Ergreifung von Ordnungsmaßnahmen geboten sind, wurden, soweit sie in zeitlichem Zusammenhang mit dem Anlass über die Frage, ob Ordnungsmaßnahmen geboten sind, stehen, nicht in § 9 GO-BT eingestellt. Sofern in Kritik an sitzungsleitenden Maßnahmen lediglich auf das Nichtergehen von Ordnungsmaßnahmen oder auf die Rechte einzelner Abgeordneter abgestellt wird, ist auch keinerlei Zusammenhang mit Gebotenheit zur Aufrechterhaltung der Ordnung erkennbar, zumal die Ordnungsgewalt und die Geschäftsordnungsautonomie originär beim Plenum (vgl. BVerfGE 60, 374 <Rn. 21>) beziehungsweise den Mitgliedern des Bundestages (cc)) liegt. Vielmehr handelt es sich bei dem Grund für den Ordnungsruf um eine über das Maß einer Auslegung hinausgehenden Erwägung, die einer Zustimmung nach § 38 GO-BT bedarf. Alleine das als Gegenstand eines Ordnungsrufes zu machen, stellt bereits einen Ultra-Vires-Akt durch den Bundestagspräsidenten, zu dem er nicht befugt ist, dar.


    cc) Des Weiteren würde die durch den Präsidenten präferierte Auffassung den Regelungszweck des § 38 und insbesondere des § 39 GO-BT konterkarieren, wird hierdurch gerade die Mitwirkungsgewalt der Abgeordneten zur Auslegung der Bestimmungen der Geschäftsordnung - auch mit Blick auf die Geschäftsordnungsautonomie aus Artikel 40 I Satz 2 GG - berührt.


    dd) Auch sonst ist kein hinreichend gewichtiger Grund ersichtlich, der einen Ordnungsruf zu rechtfertigen vermag.


    4. Nach alledem ist der Ordnungsruf aufzuheben, da er sowohl mit Blick auf die Verfassung als auch mit Blick auf die Bestimmungen der Geschäftsordnung nicht zu rechtfertigen ist.


    Unterzeichnet:


    Dr. Irina Christ

    Mitglied des Deutschen Bundestages








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    Präsident des Deutschen Bundestages

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    Ich darf hiermit das Ergebnis der Abstimmung feststellen:

    Für die Aufhebung des Einspruches haben 2 Abgeordnete gestimmt.

    Gegenstimmen gab es 5. Ein Kollege oder eine Kollegin hat sich enthalten.


    Damit ist der Einspruch mehrheitlich abgewiesen.