3 BvT 2/20 - Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB bezüglich Besetzung eines vakanten Landtagsmandates der Grünen Demokraten im Thüringer Landtag durch ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei

  • L e i t s ä t z e


    zum Urteil des 3. Senats vom 22. Dezember 2020


    – 3 BvT 2/20 –



    1. Ein Landtagsmandat, das einer bestimmten Wahlliste zusteht, kann nicht durch ein Mitglied einer anderen Wahlliste oder einen unabhängigen Kandidaten besetzt werden. Maßgeblich ist insoweit die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei oder Wahlliste zum Zeitpunkt der entsprechenden Wahl. Demnach geht mit einem Parteiwechsel auch nicht ein Wechsel der Zugehörigkeit zu einer Wahlliste einher.


    2. Die Kandidatur eines passiv Wahlberechtigen auf einer Wahlliste einer anderen Partei als der eigenen oder einer unabhängigen Wahlliste ist möglich, sofern er dies öffentlich und innerhalb einer geeigneten Frist bekanntgibt.





    OBERSTES GERICHT


    – 3 BvT 2/20 –


    742-bverfgf-png


    IM NAMEN DES VOLKES



    In dem Verfahren
    über

    den Antrag festzustellen



    dass die Besetzung eines vakanten Landtagsmandates der Grünen Demokraten im Thüringer Landtag durch ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei gegen das vDeutsche Gesetzbuch verstößt



    Antragsteller:
    Dr. Christian Schenk von Wildungen



    hat das Oberste Gericht – Dritter Senat –

    unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter


    Präsident Brandstätter


    Vizepräsidentin Baumgärtner,




    am 22. Dezember 2020 einstimmig beschlossen:



    1. Aufgrund der mangelnden Konkretisierung des Verfahrens nach § 20 Abs. 2 vDGB im Gesetz über das Oberste Gericht werden der Prüfung des Antrages grundsätzlich die Zulässigkeitsvoraussetzungen der Verfassungsbeschwerde nach § 23 OGG zugrunde gelegt. Es wird, aufgrund der fehlenden normativen Grundlagen, ein besonders lockerer Maßstab an die Zulässigkeit angelegt.


    2. Die Besetzung eines vakanten Landtagsmandats, das einer Wahlliste zusteht, durch ein Mitglied einer anderen Wahlliste ist nicht mit dem vDeutschen Gesetzbuch vereinbar und somit unzulässig.




    G r ü n d e :



    A.


    Gegenstand der Klage ist die Besetzung eines den Grünen Demokraten zustehenden Landtagsmandates durch ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.



    I.


    1. Herr William McKenzie, Mitglied der Grünen Demokraten, teilte dem Präsidium des Thüringer Landtags am 10. November 2020 mit, Herr Kai Baum, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, besetze zukünftig den vakanten Sitz der Grünen Demokraten im Landtag.



    2. Die amtierende Präsidentin des Thüringer Landtages, Frau Victoria Mechnachanov nahm dies in ihrer Funktion als amtierende Landtagspräsidentin zur Kenntnis.



    II.


    1. Am 11. November 2020 gab Herr Damian Schmidt, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, bekannt, von seinem Landtagsmandat zurückzutreten. Dieser Rücktritt resultierte in einem vakanter Sitz der Sozialdemokratischen Partei im Thüringer Landtag.



    2. Herr Mijat Russ, Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, gab am selben Tag bekannt, Herr Kai Baum rücke für die Liste der Sozialdemokratischen Partei nach und könne folglich nicht für die Grünen Demokraten nachrücken. Daraufhin gab Herr William McKenzie bekannt, seine Mitteilung über die Besetzung des vakanten Landtagsmandates der Grünen Demokraten durch Herrn Kai Baum Rückgängig machen zu wollen.



    3. Frau Victoria Mechnachanov, wiederum amtierende Präsidentin des Thüringer Landtages, nahm alle genannten Mitteilungen in ihrer Funktion als amtierende Landtagspräsidentin zur Kenntnis.



    III.


    1. Der Antragsteller sieht in der Besetzung des vakanten Landtagsmandates der Grünen Demokraten durch ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei eine Rechtsverletzung.



    2. Der Thüringer Landtag reicht keine Stellungnahme ein.



    3. Der Antragsteller stimmt dem Verzicht auf mündliche Verhandlung zu.




    B.


    Der Antrag ist zulässig. Das Oberste Gericht ist gem. § 20 Abs. 2 vDGB für Klagen bezüglich der Einhaltung der Normen des vDeutschen Gesetzbuches zuständig (I.). Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers ist gegeben (IV.). Speziell bezüglich Anforderungen an die Beschwerdebefugnis (III.) und die formelle Zulässigkeit (V.) mangelt es an einer hinreichenden Konkretisierung der Verfahrensart im Gesetz über das Oberste Gericht - insoweit ist hierbei ein besonders lockerer Maßstab anzulegen.



    I.


    Das Oberste Gericht ist gem. § 20 Abs. 2 vDGB für Klagen bezüglich der Verletzung von Normen aus dem vDeutschen Gesetzbuch zuständig. Eine solche Verfahrensart ist jedoch im Gesetz über das Oberste Gericht nicht näher konkretisiert (1.). Eine Annahme der Klage darf dem Antragsteller jedoch aus diesem Grund nicht verwehrt werden (2.). Insoweit werden zur Prüfung des Antrages die Verfahrensgrundsätze der Verfassungsbeschwerde als Maßstab angelegt (3.).



    1. Der Antragsteller reichte den Antrag unter der Überschrift "Feststellungsklage" ein. Weder das Gesetz über das Oberste Gericht, noch das Gesetz über den Thüringer Verfassungsgerichtshof sieht jedoch eine derartige Verfahrensart vor. Aus dem Antrag geht jedoch hervor, dass der Antragsteller eine Handlung eines Organs rügt, welche gegen das vDeutsche Gesetzbuch verstoße. Insofern handelt es sich um ein Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB. Das Gesetz über das Oberste Gericht konkretisiert diese Verfahrensart jedoch nicht weiter.



    2. Dennoch darf dem Antragsteller die Annahme der Klage nicht verwehrt werden, da ihm das vDeutsche Gesetzbuch das Recht zuspricht, eine solche Klage beim Obersten Gericht zu erheben. Es kann dabei es nicht mit dem vDeutschen Gesetzbuch vereinbart werden, eine Klage nach § 20 Abs. 2 vDGB nur deshalb nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil eine weitere Konkretisierung des Verfahrens durch den Gesetzgeber nicht vorgenommen worden ist. Allenfalls ist zu beanstanden, dass der Gesetzgeber die Verfahrensart nach § 20 Abs. 2 vDGB zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht im Gesetz über das Oberste Gericht konkretisiert hat. Eine solche Konkretisierung sollte demnach erfolgen.



    3. a) Der Tatsache, dass es an einer Konkretisierung der Verfahrensart im Gesetz über das Oberste Gericht mangelt, werden für die Prüfung des vorliegende Antrags die Verfahrensgrundsätze einer Verfassungsbeschwerde zugrunde gelegt (§ 23 OGG). Insoweit kann der Antragsteller eine Verletzung seines Rechts auf die Einhaltung der Normen des vDeutschen Gesetzbuches durch die Verfassungsorgane eines Landes geltend machen, was einer Verletzung eines grundrechtsgleichen Rechtes gleichsteht.


    b) Insgesamt ist bei der Prüfung des vorliegenden Antrages ein besonders lockerer Maßstab anzulegen. Priorität ist dabei, dem ursprünglichem Sinn der Verfahrensart nach § 20 Abs. 2 vDGB möglichst gerecht zu werden. Aus der teleologischen Auslegung ergibt sich jedoch nur, dass es grundsätzlich möglich sein muss, ein bestimmtes Handeln zu beanstanden, wenn der Antragsteller der Überzeugung ist, es verstoße gegen Normen des vDeutschen Gesetzbuches. Dabei lässt sich der Formulierung des § 20 Abs. 2 vDGB jedoch nicht entnehmen, ob es sich bei dem Verfahren grundsätzlich um ein kontradiktorisches Verfahren handeln muss oder zumindest kann. Weiter wird nicht ersichtlich, ob der Antragsteller selbst überhaupt von dem angegriffenen Handeln betroffen sein muss, oder ob das Verfahren viel mehr einer objektiven Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Handelns dient oder zumindest dienen kann. Jene grundsätzlichen Fragen sind aus der Formulierung nicht beantwortbar, weshalb der Senat davon absieht, die Verfahrensart in dieser Entscheidung näher zu definieren. Diese Aufgabe obliegt alleinig dem Gesetzgeber.



    II.


    1. Der Beschwerdeführer ist gem. § 7 OGG klageberechtigt. Er ist als volljährige natürliche Person auch prozessfähig.



    2. Beschwerdegegenstand ist die Besetzung eines vakanten Landtagsmandats der Grünen Demokraten im Thüringer Landtag durch ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Es handelt sich dabei um einen Akt der öffentlichen Gewalt und insoweit um einen tauglichen Beschwerdegegenstand.



    III.


    Der Beschwerdeführer ist beschwerdebefugt. Die Anforderungen an die Beschwerdebefugnis analog zur Verfassungsbeschwerde sind zwar nicht gegeben (1.), diese Anforderungen sind in dem Verfahren nach
    § 20 Abs. 2 vDGB jedoch nicht entsprechend strikt anzuwenden (2.).



    1. a) Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein (Beschwerdebefugnis). Die Beschwerdebefugnis betrifft einen besonderen Aspekt des Rechtsschutzbedürfnisses (Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, § 90 Rn. 338, 436 <Oktober 2013>; Lenz/Hansel, BVerfGG, 2. Aufl. 2015, § 90 Rn. 324). Um beschwerdebefugt zu sein, muss ein Beschwerdeführer behaupten können, selbst, gegenwärtig und unmittelbar in einem Grundrecht oder gleichgestellten Recht verletzt zu sein.


    b) Es kann im vorliegenden Fall zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Möglichkeit einer Verletzung eines grundrechtsgleichen Rechtes besteht, jedoch muss der Beschwerdeführer zumindest im Verfahren der Verfassungsbeschwerde durch den Akt der öffentlichen Gewalt auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein. Das mit dem Antrag ursprünglich verfolgte Begehren ist dabei bereits erledigt. Insoweit kann der Beschwerdeführer nicht geltend machen, dass er durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt gegenwärtig betroffen ist.



    2. a) Die Beschwerdebefugnis des Antragstellers im Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB kann im Gegensatz zur Verfassungsbeschwerde jedoch auch fortbestehen, wenn das ursprünglich verfolgte Begehren bereits erledigt ist, der Antragsteller jedoch mit seinem Antrag grundsätzliche und berechtigte Zweifel zur Auslegung des vDeutschen Gesetzbuches aufwirft. Ein Abweisen einer Klage nach § 20 Abs. 2 vDGB wird dem ursprünglichen Zweck dieser Verfahrensart gerade nicht gerecht, wenn der Antragsteller ein bestimmtes Handeln nicht mehr beanstanden kann, auch wenn damit sein ursprüngliches Begehren bereits erledigt ist. Dem Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB muss demnach nicht zwingend die Durchsetzung eines subjektiven Interesses zu Grunde liegen. Auch die objektive Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Handelns ist, im Gegensatz zum Organstreitverfahren und analog zum Verfahren der abstrakten Normenkontrolle, im Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB denkbar. Demnach müsste der Antragsteller nur ein besonderes objektives Klarstellungsinteresse an der Sache haben, welches im vorliegenden Fall gegeben sein könnte. Der Wortlaut, dass Oberste Gericht entscheide "über die Einhaltung der Spielregeln" (über die Einhaltung der Normen des vDeutschen Gesetzbuches) setzt dabei eben nicht voraus, dass der Antragsteller, analog zur Verfassungsbeschwerde, selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen sein muss.


    b) Auch wenn es grundsätzlich möglich erscheint, dass die genannten Voraussetzungen für eine Klageerhebung gegeben sein müssen, so müssten diese Voraussetzungen dabei zumindest durch den Gesetzgeber benannt worden sein. Durch die fehlende gesetzliche Normierung dieser Voraussetzungen ist es nicht vertretbar dem Antragsteller das Zusprechen der Beschwerdebefugnis zu verwehren, da er von diesen Voraussetzungen im Vorfeld der Klageerhebung keine Kenntnis hatte oder hätte erlagen können. Auf das Festlegen dieser Voraussetzungen im Zuge dieser Entscheidung wir insoweit verzichtet, da der Senat die Auffassung vertritt, der Gesetzgeber müsse hierbei tätig werden. Die grundlegende Definition der Anforderungen an den Antragsteller in dem Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB kann demnach nicht durch das Oberste Gericht selbst, sondern nur durch den Gesetzgeber vorgenommen werden. Insbesondere aus dem Grund, das eben keine normative Rechtfertigungen hierfür vorliegen, kann dem Antragsteller die Beschwerdebefugnis nicht abgesprochen werden.



    IV.


    Das Rechtschutzbedürfnis des Antragstellers ist gegeben. Das ursprünglich verfolgte Antragsziel ist bereits erledigt (1.), jedoch besteht das Rechtsschutzverhältnis des Antragstellers fort (2.).



    1. Die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde setzt voraus, dass im Zeitpunkt der Entscheidung des Obersten Gerichts ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung des angegriffenen Hoheitsaktes oder - in bestimmten Fällen - jedenfalls für die Feststellung seiner Verfassungswidrigkeit besteht (vgl. BVerfGE 33, 247 <253>; 50, 244 <247 f.>; stRspr). Ist das mit der Verfassungsbeschwerde ursprünglich verfolgte Begehren erledigt, so besteht ein Rechtsschutzbedürfnis nur dann, wenn anderenfalls die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage von grundsätzlicher Bedeutung unterbliebe und der gerügte Grundrechtseingriff besonders schwer wiegt; ferner besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, wenn eine Wiederholung der angegriffenen Maßnahme zu besorgen ist oder wenn die gegenstandslos gewordene Maßnahme den Beschwerdeführer weiterhin beeinträchtigt (vgl. BVerfGE 33, 247 <257 f.>; 50, 244 <248>; 81, 138 <140>; 91, 125 <133>; 99, 129 <138>). Das sinngemäße Anwenden dieser Entscheidungsformel auf Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB erscheint insoweit möglich.



    2. Das mit dem Antrag ursprünglich verfolgte Begehren ist zwar erledigt, jedoch besteht das Rechtsschutzbedürfnis fort, da mit Nichtannahme der Klage die Klärung einer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Frage unterbliebe. Dazu ist eine Wiederholung der gerügten Maßnahme zu besorgen. Somit ist das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers gegeben.



    V.


    Die formalen Anforderungen an das Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB sind erfüllt. Die Schriftform ist gewahrt (1.). Die fehlende Benennung der Norm, gegen welche verstoßen worden sein soll, wird im vorliegenden Verfahren toleriert, da es sich um das erste seiner Art vor dem Obersten Gericht handelt (2.).



    1. Die Schriftform gem. § 12 Abs. 1 S. 1 OGG ist gewahrt.



    2. a) Grundsätzlich erscheint es notwendig, dass der Antragsteller in dem Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB die Norm des vDeutschen Gesetzbuches benennt, gegen die verstoßen worden sein soll. Eine solche Regelung erscheint analog zur Verfassungsbeschwerde, wo der Beschwerdeführer das Grundrecht benennen muss, in dem er verletzt sein soll, notwendig. Eine weitere Begründung kann indes unterbleiben, wenn aus der Klageschrift hervorgeht, dass ein Verstoß gegen eine oder mehrere Normen des vDeutschen Gesetzbuches möglich erscheint.


    b) Der Antragsteller benennt in seinem Antrag keine Norm des vDeutschen Gesetzbuches, gegen die das Handeln der Thüringer Landtagspräsidentin verstoßen haben soll. Dennoch kann der Klageschrift kontextuell entnommen werden, gegen welche Norm das angegriffene Handeln verstoßen haben soll. Im Anbetracht der besonderen Tatsache, dass es sich bei dem vorliegenden Antrag um das erste Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB vor dem Obersten Gericht handelt und diese Verfahrensart im Gesetz über das Oberste Gericht nicht näher konkretisiert wird, sieht der Senat in diesem Fall von einer Ablehnung der Klage ab. Dies wäre schon alleine deshalb nicht vertretbar, da der Antragsteller keine Möglichkeit hatte, über diese Voraussetzung Kenntnis zu haben oder zu erlagen.




    C.


    Der Klage kommt verfassungsrechtliche Bedeutung zu (I.). Die Besetzung eines vakanten Landtagsmandats, das der Liste einer Partei zusteht, durch ein Mitglied einer anderen Partei ist dabei unzulässig, sofern die Absicht einer Kandidatur auf einer anderen Wahlliste als jener der eigenen Partei durch den Kandidaten nicht fristgerecht öffentlich angezeigt wurde (II).



    I.


    Der Klage wird eine verfassungsrechtliche Bedeutung i.S.d. § 13 Abs. 2 Buchstabe a OGG zugemessen. Die Voraussetzungen, um der Klage, analog zur Verfassungsbeschwerde, eine verfassungsrechtliche Bedeutung zuzusprechen sind entsprechend erfüllt.


    1. Voraussetzung hierfür ist, zumindest bezüglich der Verfassungsbeschwerde regelmäßig, dass die von ihr aufgeworfenen verfassungsrechtlichen Fragen in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts/Obersten Gerichts nicht bereits geklärt sind. Weitere Voraussetzung ist, dass die Verfassungsbeschwerde eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lässt und noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt oder die durch veränderte Verhältnisse erneut klärungsbedürftig geworden ist. Über die Beantwortung der verfassungsrechtlichen Frage müssen also ernsthafte Zweifel bestehen. An ihrer Klärung muss zudem ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse bestehen. Das kann etwa dann der Fall sein, wenn sie für eine nicht unerhebliche Anzahl von Streitigkeiten bedeutsam ist oder ein Problem von einigem Gewicht betrifft, das in künftigen Fällen erneut Bedeutung erlangen kann. (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 ff.>). Diese Grundsätze sind auf das Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB sinngemäß anzuwenden.



    2. Eine verfassungsrechtliche Frage ist insoweit auch gegeben, wenn sich es sich um eine Frage der Auslegung oder der Anwendung des vDeutschen Gesetzbuches handelt, da dieses auf Grund seiner Funktion als Spielregeln und seiner Stellung in der Normenhierarchie über dem Grundgesetz als höherrangiges Verfassungsrecht gegenüber des Grundgesetzes anzusehen ist (vgl. OGE 3BvF1/20 B, I). Insofern kann einer Klage gem. § 20 Abs. 2 vDGB auch verfassungsrechtliche Bedeutung zugemessen werden, wenn es einer Klärung der Auslegung des vDeutschen Gesetzbuches bedarf oder die Klage eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich zumindest nicht zweifelsfrei aus dem vDeutschen Gesetzbuch beantworten lässt.



    3. Da die vorliegende Klage eine verfassungsrechtliche Frage aufwirft, die sich nicht zweifelsfrei aus dem vDeutschen Gesetzbuch beantworten lässt, sie noch nicht durch verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt ist und an ihrer Klärung ein über den Einzelfall hinausgehendes Interesse besteht, da das aufgegriffene Problem in künftigen Fällen erneut Bedeutung erlangen kann, ist die verfassungsrechtliche Bedeutung der Klage angezeigt. Insoweit ist sie, soweit es im Verfahren nach § 20 Abs. 2 vDGB überhaupt einer Annahme zur Entscheidung bedarf, zur Entscheidung anzunehmen.



    II.


    Eine Kandidatur eines Mitglieds einer Partei auf der Wahlliste einer anderen als der eigenen Partei ist grundsätzlich zulässig (1.). Ein überparteiliches Tauschen der Landtagsmandate und ein Tauschen der Landtagsmandate zwischen verschiedenen Wahllisten ist unzulässig (2.).



    1. Mitglieder einer Partei können nur dann auf einer anderen Wahlliste als auf jener der eigenen Partei kandidieren, wenn dies in angemessener Frist vor der Wahl verkündet wird (a). Ein nachträglicher Parteiwechsel geht nicht mit der Änderung der Wahllistenzugehörigkeit einher (b).


    a) Zu Landtagswahlen werden gem. § 14 Abs. 3 S. 1 bis 3 vDGB grundsätzlich alle Listen von Parteien oder unabhängige Listen zugelassen, welche ihr Antreten zur Landtagswahl im dafür vorgesehenen Thread fristgerecht öffentlich verkünden. Es ist dabei gem. § 14 Abs. 3 S. 4 vDGB ausreichend den Namen der entsprechenden Liste anzugeben. Die fehlende Angabe von Namen der Personen, welche für die antretenden Listen kandidieren resultiert in der Unklarheit, ob es möglich ist, dass Mitglieder einer Landespartei auch auf anderen Listen als jener der eigenen Landespartei kandidieren können.


    aa) Dieser Praxis steht prinzipiell keine verfassungsrechtliche Norm entgegen, da die Parteien grundsätzlich frei in ihrer Entscheidung sind, Parteilose oder Mitglieder anderer Parteien auf ihren Wahllisten zuzulassen. Die entsprechende Regulierung des Verfahrens zur Besetzung der Wahllisten obliegt den Parteien und ihren Landesverbänden durch ihre Satzung. Jedenfalls muss jedoch die Kandidatur eines Parteimitglieds oder eines Parteilosen auf der Wahlliste einer anderen Partei im Vorfeld der Wahl öffentlich angezeigt werden. Der Wähler muss insoweit vor der entsprechenden Wahl Klarheit darüber haben, welche Kandidaten auf welcher Wahlliste kandidieren.


    bb) Dabei ist es Usus, dass Mitglieder einer Partei auch auf der Wahlliste derselben Partei kandidieren. Insoweit muss zur Wahrung des Vertrauens der Bürger in die Politik und die entsprechenden Landtagswahlen und der aus ihr resultierenden Sitzverteilung im entsprechenden Landesparlament Orientierungsgewissheit herrschen. Hierfür ist es es notwendig, dass Praktiken, die nicht den üblichen und jenen Praktiken entsprechen, die der Bürger von politischen Vereinigungen erwarten können muss, im Vorfeld der Wahl öffentlich gemacht werden. Den Bürgern muss es insoweit ermöglicht werden, von der nicht üblichen und der sich von der eigentlich zu erwartenden unterscheidenden Situation Kenntnis zu erlangen. Eine Kandidatur eines Parteimitglieds oder eines Parteilosen auf der Wahlliste einer anderen als der eigenen Partei stellt hierbei eine Situation dar, die grundsätzlich nicht den Erwartungen des Wählers entspricht. Insoweit ist es zwingend notwendig, dass dem Wähler ausreichend Zeit gegeben wird, von dieser unerwarteten Situation Kenntnis zu erlangen und sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen.


    cc) Es ist daher festzuhalten, dass Mitglieder einer Partei automatisch der zugehörigen Landeswahlliste der entsprechenden Partei angehören, sofern sie nicht in angemessener Frist vor der Wahl bekanntgeben, auf einer anderen Liste kandidieren zu wollen. Die Frage, welche Frist für eine solche Bekanntgabe angemessen erscheint kann indes offenbleiben, da sie für das vorliegende Verfahren nicht maßgeblich ist. Allenfalls ist eine Konkretisierung durch den Gesetzgeber anzustreben.


    b) aa) Auch ein Parteiwechsel nach der Landtagswahl kann nicht mit einer Änderung der Listenzugehörigkeit einhergehen. Auch wenn bei den Landtagswahlen gem. § 14 Abs. 5 S. 1 i.V.m. Abs. 3. S. 3 vDGB kein personalisiertes Wahlrecht gilt, so muss trotzdem berücksichtigt werden, dass die Entscheidung des Wählers auch und vor allem von der personellen Besetzung der Wahllisten beeinflusst wird. Eine Änderung der Listenzugehörigkeit nach der Wahl würde daher das Risiko einer Missachtung des Wählerwillens bergen und ist somit regelmäßig unzulässig. Insoweit ist die Zugehörigkeit eines Kandidaten zu einer Wahlliste zum Zeitpunkt der Wahl maßgeblich für die komplette Legislaturperiode.


    bb) Wechselt ein Mitglied während der Legislaturperiode seine Parteizugehörigkeit, so geht damit allenfalls ein Verlust seiner Zugehörigkeit zur Wahlliste, der er bisher angehört hat einher. Unberührt hiervon bleibt die Möglichkeit von Bürgerinnen und Bürgern, welche zum Zeitpunkt der Wahl keiner Liste angehörten (somit parteilos waren oder in angemessener Frist vor der Wahl öffentlich bekanntgegeben haben nicht der Liste ihrer Partei angehören zu wollen) und auf eine Kandidatur bei der entsprechenden Wahl verzichtet haben (somit nicht als Mitglied einer Wahlliste oder mit einer eigenen Liste zur Wahl angetreten sind), sich während der Legislaturperiode einer Liste anzuschließen und ein dieser Liste zustehendes Landtagsmandat zu besetzen.



    2. Das vDeutsche Gesetzbuch ermöglicht kein überparteiliches Tauschen von Landtagsmandaten, da die Landtagsmandate an die Wahllisten und nicht an die Landesparteien gebunden sind (a). Dazu ist auch ein Tauschen der Mandate zwischen verschiedenen Listen unzulässig (b).


    a) Aus § 14 Abs. 5 S. 1 vDGB geht unmissverständlich hervor, dass jeder Liste pro Stimme ein Landtagsmandat zusteht. Dies wird durch § 14 Abs. 5 S. 5 vDGB bekräftigt. Insofern kann festgestellt werden, dass die Landtagsmandate an die Wahllisten, nicht jedoch an einzelne Mitglieder oder gar die Landesparteien gebunden sind. Maßgeblich für die Besetzung, Nachbesetzung und den Tausch der Landtagsmandate kann insoweit nur die Listung der jeweiligen Kandidaten auf den Landeswahllisten zum Zeitpunkt der Wahl sein und nicht ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Partei.


    b) Die Auslegung von § 14 Abs. 5 S. 2 vDGB, man könne die Landtagsmandate auch überparteilich tauschen ist insoweit nicht mit § 14 Abs. 5 S. 1 und S. 5 vDGB vereinbar, da die Landtagsmandate gar nicht an die Landesparteien sondern an die Landeswahllisten gebunden sind. Allenfalls bedarf § 14 Abs. 5 S. 2 vDGB aufgrund der möglichen Missinterpretation einer Berichtigung durch den Gesetzgeber, um die Rechtsklarheit zu gewährleisten. Auch wenn § 14 Abs. 5 S. 2 vDGB jedoch ein beliebiges Tauschen der Landtagsmandate "unter den jeweiligen Wahllisten", wie es folgerichtig heißen müsste vorsehen würde, so würde damit nicht ein Tauschen der Mandate zwischen Mitgliedern verschiedener Listen, sondern nur ein Tauschen der Mandate zwischen den Mitgliedern ein und derselben Liste ermöglicht werden. Dies geht aus der teleologischen Auslegung des § 14 vDGB hervor. Die Ermöglichung eines Tausches der Mandate zwischen Parteien oder Listen kann, unter ganzheitlicher Betrachtung der entsprechenden Normen, nicht im Sinne und nicht das Ziel des Gesetzgebers beim Erlass des vDeutschen Gesetzbuches gewesen sein. Schon allein die sich aus § 14 Abs. 5 S. 1 und S. 5 vDGB und § 14 Abs. 5 S. 2 vDGB ergebenden Widersprüche machen dies deutlich.




    D.


    1. Eine Förderung des Verfahrens ist von einer mündlichen Verhandlung nicht zu erwarten. Der Antragsteller verzichtet dabei auf eine mündliche Verhandlung. Der Thüringer Landtag ist zwar zur Stellungnahme berechtigt, er ist jedoch dem Verfahren nicht beigetreten. Insoweit wird analog zur Verfassungsbeschwerde (§ 23 Abs. 4 i.V.m. § 13 Abs. 1 S. 2 OGG) auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.



    2. An der Entscheidung mitgewirkt haben auch die zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits aus dem Obersten Gericht ausgeschiedenen Richterinnen und Richter Schwalbenbach und Bloomberg.




    Brandstätter | Baumgärtner

    Gruppe_396.png


    ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------

    Administrator


    Wünsche, Anliegen, Anregungen gerne hier.