"SOZIALDEMOKRATISCHES JAHRZEHNT" [Mijat Russ in Berlin]

  • Am heutigen Tag ist das neue Buch des ehemaligen Bundeskanzlers Mijat Russ "SOZIALDEMOKRATISCHES JAHRZEHNT" erschienen. Auf seiner Lesereise machte er heute zunächst Stopp in seiner alten Wirkungsstätte, im Willy-Brandt-Haus und gab einige Kapitel seines Buches, bei regem Besuch von Parteimitgliedern und interessierten Bürgerinnen und Bürgern, wieder.


    Weshalb wir keine Steine werfen...


    "Die einfachen Dingen unserer Zeit brauchen keine großen Worte. So auch die Idee unseres friedlichen Zusammenlebens. "Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem andern zu." Ich muss diese Reihe an allseits bekannten Kinderzitaten wohl nicht weiter ausführen. Hoffe ich. Die Idee ist immer dieselbe. Wenn wir eine gewaltfreie Welt erwirken wollen, dann können wir diese Vision nicht mit der gleichen eigenwilligen Gewalt versuchen umzusetzen. Es geht um gegenseitigen Respekt, darum den Mensch in dem anderen zu sehen, fällt es auch noch so schwer. Dennoch beziehungsweise genau deswegen haben wir uns in unserer Gesellschaft auf ein Gewaltmonopol geeinigt, welches im Notfall eben doch diese Gewalt anwendet, um Gewaltfreiheit umzusetzen: Den Staat. Und tatsächlich erscheint diese Theorie sinnvoll. Solange Gewalt zur Sicherung von (Grund)-Rechten nötig ist, gibt es klare Regelungen, wann und wie sie von wem benutzt werden darf. Dazu gehört auch die Definition, was Gewalt überhaupt ist. Sie ist ja nicht nur in der Form eines Schlags auf den Kopf möglich, sondern beispielsweise auch in Form von Beleidigungen oder Zwängen vorhanden. Insofern gibt es auch staatlicherseits Gewalt, die prinzipiell nicht angewendet werden darf, doch genauso solche, welche zwangsweise angewendet werden muss, wie eine Steuerpflicht. Soweit zur Theorie.


    Nun verhält es sich in linken und zuweilen auch in rechten Gruppen so, dass ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Gewaltmonopol Staat, insbesondere der Polizei als Personifikation dessen, herrscht. ACAB - wir alle wissen, was es bedeutet. In den selteneren Fällen all colours are beautiful. Dieses Misstrauen wird aus persönlichen Erfahrungen, strukturellen Problemen oder allgemeinen Vermutungen hergeleitet. Häufig ist es auch berechtigt, denn tatsächlich erleben vielen Menschen immer wieder negative Erfahrungen mit den (deutschen) Sicherheitsbehörden. Die Probleme, die daraus entstehen, sind keinesfalls klein zu reden. Doch entsteht aus dieser Denkweise häufig der Anspruch, selbst als Gewaltmonopol oder ausführende Gewalt zu agieren. Nicht nur, aber insbesondere im politischen Diskurs stellt uns das vor Probleme. Bei einem ernstgemeinten Anspruch einer Demokratie kann es nicht toleriert werden, Ziele durch Gewalt umzusetzen, sofern sie nicht demokratisch legetimiert sind.

    Auf der einen Seite kann und will ich als überzeugter Antifaschist, der sich in seiner sächsischen Heimat und im hessischen Umland von Frankfurt über einige Jahre politisch engagiert hat, nicht leugnen, dass ich nicht auch mehrfach in Konfliktsituationen mit Polizei und Staat gekommen bin. Auf der anderen Seite aber, habe ich immer versucht, jegliche Form von Gewalt zu verhindern. Denn dieser Eindruck ist bei vielen Gruppierungen immer der falsche: Dass die einzelne Anwendung von Gewalt gegen Menschen, weil sie zu einem größeren Ganzen gehören, in Ordnung ist. Die Zeiten, in welchen das (in Deutschland) nötig war, sind und bleiben das hoffentlich für immer, vorbei. Wir leben in einem Staat welcher, bei allen Verwerfungen ein Rechtsstaat mit Gewaltenteilung ist, welcher genug Legitimation besitzt, um durch seine Gesetze Ordnung zu schaffen. Zu einer Demokratie gehört auch, dass man unliebsame Gesetze nicht durch die eigene Gewalt zu egalisieren versucht. Es gab und gibt Situationen, in welcher eine solche Legitimation nicht mehr gegeben war. Das weitgehendste war das Dritte Reich. Heute sind wir uns alle einig, dass Widerstandskämpfende das Richtige getan haben. Weltweit gibt es nach wie vor zahlreiche Regime, gegen welche Gesetzgebung es sich aufzulehnen gillt. Doch selbst da müssen wir sehen, dass die Gewaltanwendung schließlich als Mittel selbst in der Regel ungeeignet ist. Mit dieser schreckt man potenzielle unterstützende Kräfte eher ab, als dass sie angezogen werden. Genauso verhält es sich hier in Deutschland, in welchem die Gewaltanwendung noch weniger respektiert werden sollte. Um also konkret auf den Titel dieses Kapitels zu kommen: Warum werfen wir keine Steine?


    Erstens: Weil es nichts bringt. Der Nutzen von Gewalt gegen Sachen oder Menschen ist fast immer ein negativer. In antifaschistischen Demonstrationen beispielsweise, sorgt es für weniger Verständnis und weniger Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. Damit stärkt man im Zweifel sogar noch den Gegner. In jedem Fall aber schadet man sich selbst. Ein brennendes Auto sorgt auch nicht für mehr Klimaschutz und eine eingeworfene Fensterscheibe beendet nicht die Ausbeutung auf unserer Welt.


    Zweitens: Weil es Menschen schadet. Auch wenn wir die anderen Menschen nicht mögen, so ist es weder sinnvoll, noch haben wir das Recht dazu, diesen zu schaden. Aus Humanismus und Eigennutz können wir vernünftigerweise nicht wollen, dass wir uns umgangssprachlich gegenseitig auf die Mütze hauen. Einerseits sollten wir bedenken, dass auch wir uns irren können, andererseits, dass wir staatlicherseits bewusst keine Prügelstrafen oder Folter mehr anwenden. Weshalb sollte es dann richtig sein, dies selbst zu tun? Ich kann aus Erfahrung sagen, so ein Stein tut schon weh im Gesicht und ich will das Niemanden andern antun, auch wenn diese Person vor mir keinen Respekt besitzt.


    Drittens: Wir leben in einer Demokratie, das ist zu akzepzieren. Gewalt besitzt hier immer eine Legitimation durch Gesetze und den Staat in Form einer der drei Gewalten. Zuweit geht es, wenn wir aus politischen Debatten, inhaltlichen Auseinandersetzungen usw. dieses Recht für uns proklammieren, weil wir ja "im Recht" wären, anderen Menschen oder deren Eigentum schaden zu dürfen. Selbst wenn das mal ausnahmsweise stimmt, dann sorgt Gewalt gegen Personen oder deren Eigentum eher nicht für Verständnis auf der Gegenseite, sondern entweder für Angst oder Wut und Hass. Beides steht dem eigenen Ziel wieder gegenüber. Und das heißt nicht, dass wir verschiedene Formen von Gewalt gleichsetzen und sagen, ein abgebranntes Auto wäre genauso schlimm wie ein abgebranntes Asylheim. Das heißt auch nicht, dass wir deshalb Respekt vor rechtsextremen oder anderen extremistischen Positionen haben sollten. Doch diese rechtlich auszugrenzen, das ist staatliche Aufgabe. Sie zivilgesellschaftlich auszugrenzen, ist Sache der Zivilgesellschaft. Doch mit Gewalt eben nicht - denn diese ist, wie beschrieben, niemals legetimiert. [...]"