Beiträge von Prof. Dr. Roland von Gierke

    Die Rückforderung freigiebig hingegebener Sicherheitsleistungen gem. § 116a StPO


    Wird gegen einen Beschuldigten die Untersuchungshaft angeordnet (§§ 112 ff StPO), so hat der Haftrichter amtswegig zu prüfen, ob als milderes Mittel, um den Zweck der Untersuchungshaft zu rechtfertigen, auch eine Sicherheitsleistung infragekommt (§§ 126 I 2 Nr. 4, 126a StPO). Diese, im allgemeinen Sprachgebrauch, als Kaution bezeichnete Sicherheitsleistung wird durch Hinterlegung von barem Geld geleistet (§ 116a I 1 StPO). Im Aussetzungsbeschluss ist zu bestimmen, ob Eigen- oder Dritthinterlegung angeordnet wird. Letzteres muss ausdrücklich aus dem Beschluss hervorgehen. Unabhängig von der zugelassenen Form der Hinterlegung wird die Kaution in der Praxis durch Dritte bewirkt, denn der Dritte ist zu diesem Zeitpunkt noch in Untersuchungshaft und dementsprechend eingeschränkt handlungsfähig. Vor diesem Hintergrund stellt sich die - keineswegs triviale - Frage nach dem Regress des Hinterlegers, der die Sicherheit immerhin im Interesse des Beschuldigten erbringt. Diese Frage ist nicht zuletzt für Strafverteidiger von Interesse, die nicht selten die Kaution auslegen werden.


    1. Unproblematische Fälle

    Wie üblich stellen sich keine weiteren Probleme, wenn die Parteien das Problem bedacht und einer vertraglichen Regelung zugeführt haben. Hier richtet sich der Anspruch nach der Parteivereinbarung. Zumeist wird insoweit ein Auftrag, möglicherweise auch ein - weil auf den Zeitpunkt des möglichen Verfalls oder Auskehr der Kaution aufgeschobener - Anspruch aus (unentgeltlichem) Darlehensvertrag gegeben sein.


    2. Fehlen einer vertraglichen Regelung

    Diffiziler stellt sich die Frage, wenn die Parteien - wie häufig ohne Beteiligung juristischen Sachverstands - keine Regelung treffen. Auch für diese Fälle muss das Gesetzesrecht eine interessengerechte Lösung vorhalten. Dem Judiz nach zu urteilen scheint die Sache klar: Weil hier mehr oder weniger ein fremdes Interesse wahrgenommen wird, muss dem Dritten ein Anspruch auf Auslagenersetz zugesprochen werden, sei es aus Geschäftsführung ohne Auftrag oder Bereicherungsrecht. Bei lichter Betrachtung ist dieser nachvollziehbare Gedanke indes nur eingeschränkt richtig: Es kommt nach hiesiger Auffassung darauf ein, ob eine Eigen- oder Dritthinterlegung vorliegt. In beiden Fällen ist der Tatbestand der berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag gegeben (a.). Im Falle der Dritthinterlegung entsteht der Anspruch indessen erst mit Verfall der Sicherheit (§ 124 StPO) (b.). Für die Abgrenzung von Eigen- und Dritthinterlegung kommt es auf den erkennbaren Willen des Dritten an; davon zu unterscheiden ist die fehlerhafte Hinterlegung (c.).


    a) Tatbestand der berechtigten Geschäftsführung ohne Auftrag

    Nach den §§ 677, 683, 670 BGB kann derjenige, der ein Geschäft für einen anderen führt, ohne von ihm beauftragt worden zu sein, Ersatz derjenigen Aufwendungen verlangen, die er für erforderlich halten durfte, es sei denn die Übernahme der Geschäftsführung entsprach nicht dem (mutmaßlichen) Willen bzw. Interesse des Geschäftsherrn. Der alles entscheidende Fremdgeschäftsführungswille wird anhand einer typisierenden Zuordnung eines Geschäfts in einen bestimmten "Rechts- oder Interessenkreis" ermittelt. So sei beispielhaft jede Verwendung auf eine Sache ein Geschäft des Eigentümers, der sich immerhin um seine Sache zu kümmern habe. In welchem Interessen- und Rechtskreis fällt nun die Hinterlegung zum Zwecke der Sicherheitsleistung? Typischerweise wird die Zuordnung von Interessen anhand von Rechtspflichten vorgenommen. Diese Einordnung versagt vorliegend, denn durch den Aussetzungsbeschluss wird weder der Beschuldigte, noch ein Dritter zur Sicherheitsleistung verpflichtet, sondern lediglich berechtigt. Aus Gründen der Verhältnismäßigkeit steht es dem Beschuldigten eben frei, ob er die Abwendung der Untersuchungshaft um dem Freiwerden der Sicherheit willen fortsetzt oder auf freien Fuß gesetzt wird. Diffizil scheint die Einordnung als sog. fremdes Geschäft auch, wenn lediglich die Sicherheitsleistung durch Dritte zugelassen wird: Kann es wirklich ein fremdes Geschäft für einen anderen sein, wenn der Dritte aus rechtlichen Gründen außerstande ist, dieses Geschäft wirksam vorzunehmen? Und kann es für die Frage der Anwendbarkeit der GoA zwei verschiedene Antworten geben, wenn das unmittelbar gewollte Ergebnis in Gestalt des Entlasses aus der Untersuchungshaft in beiden Fällen gleich ist? Meines Erachtens ist das zu verneinen. Das Merkmal "fremdes Geschäft" findet sich in keiner Stelle im Gesetz. Das Geschäft, die Hinterlegung von Geld als Kaution, muss lediglich "für einen anderen" (§ 677 BGB) besorgt worden sein. Wie auch § 687 I BGB zeigt, kommt es alleine auf den Willen des Geschäftsführers an und dass der Sicherungsgeber hier vor allem das Interesse des Beschuldigten an der Haftentlassung im Auge haben wird, kann man kaum bestreiten. Selbiges gilt für die Berechtigung; der Beschuldigte verhielte sich zudem in treuwidriger Weise widersprüchlich, wenn er aufgrund der Leistung des Dritten die Entlassung aus der Untersuchungshaft annimmt, später aber geltend macht, dass die Übernahme der Geschäftsführung nicht seinem Interesse entsprach.


    b) Dritthinterlegung & Rückzahlungsanspruch

    Dass diese Lösung der Präzisierung bedarf, erschließt sich unmittelbar, wenn man sich vor Augen führt, dass das sicherheitshalber hingegebene Geld durch die Hinterlegung nicht endgültig aus dem Vermögen des Sicherungsgebers ausscheidet. Vielmehr hat die Hinterlegung zur Sicherheitsleistung grundsätzlich die Wirkung eines Pfandrechts (vgl. § 233 Hs. 1 BGB; im Falle des Hs. 2 gilt jedenfalls aus wirtschaftlicher Sicht nichts anderes, weil sich ein (künftiger) Rückübertragungsanspruch auch auf das Eigentum am hingegebenen Geld bezöge). Dieser Anspruch steht dem Hinterleger zu (BGH, Urteil vom 17.03.2016, Az: IX ZR 303/14). Damit würde der Hinterleger ungerechtfertigt bereichert, wenn er sowohl Auslagenersatz als auch die Rückgabe seiner Sicherheit von der Verwahrstelle verlangen könnte. Ein erster Impuls drängt zur Lösung über § 255 BGB analog: Auslagenersetz gegen Abtretung der Freigabeansprüche gegen die Verwahrstelle. Nach Ansicht des BGH steht der Abtretung immerhin kein Abtretungsverbot wegen Inhaltsänderung (§ 399 Alt. 1 BGB) entgegen (BGH, a. a. O.). Bei lichter Betrachtung überschreitet ein unmittelbarer Auslagenersatz allerdings die tatsächlichen Aufwendungen im Sinne des § 670 BGB. Denn die hingegebene Sicherheit ist nicht endgültig aus dem Vermögen des Hinterlegers ausgeschieden. Wie die Begrifflichkeit schon Glauben machen will, geht es um ein Sicherungsgeschäft und nur die diesbezügliche Aufwendungen sind - im Zeitpunkt vor dem Verfall der Sicherheit (§ 124 I StPO) - ersatzfähig. Die Freistellung bzw. Freigabe der Sicherheit kann wegen Unmöglichkeit nicht verlangt werden, wohl aber die Kosten der Sicherheitenbestellung. Im Falle von Bargeld handelt es sich um entgangene Nutzungen, die allerdings konkret dargelegt werden müssen; andernfalls käme es zur verschuldensunabhängigen Verzinsungspflicht, die das Gesetz nur bei Rechtshängigkeit vorsieht (§ 291 S. 1 HS. 1 BGB). Auch Darlehenskosten können ersetzt verlangt werden, wenn der Geschäftsführer bereits bei Darlehensaufnahme im Hinblick auf die Sicherheitsleistung handelte. Erst mit Verfall der Sicherheit kann die hingegebene Sicherheit als solche ersetzt verlangt werden. Ist eine Ersatzbeschaffung nicht möglich, kommt es zur Wertersatzpflicht. Damit ist die Möglichkeit einer Bereicherung des Geschäftsführers ausgeschlossen. Gleichzeitig ist eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Für die Anspruchsentstehung kommt es darauf an, welche Aufwendungen der Geschäftsführer hatte. Hierfür wiederum ist das Außenverhältnis zur Verwahrstelle maßgeblich: Wenn der Geschäftsführer Inhaber des Rückzahlungsanspruchs ist, hat er kein endgültiges Vermögensopfer erbracht. Umgekehrt ist der Anspruch sofort entstanden, wenn der Beschuldigte selbst Hinterleger ist.


    c) Abgrenzung der Eigen- und Dritthinterlegung und die Frage nach Sollen und Sein

    Voraussetzung dieser Unterscheidung ist freilich, dass ein Dritter die Sicherheit stellen, der Beschuldigte gleichwohl Hinterleger sein kann. Dinglich wird man dies wohl kaum mit einem Geheißerwerb begründen können, denn die Verwahrstelle unterwirft sich nicht dem Willen des Beschuldigten, sondern nimmt eine öffentliche Aufgabe aufgrund gesetzlicher Vorgaben wahr. Jedenfalls ist der Rechtsordnung des BGB der quasi-vorweggenommene Vermögensübergang kraft Anweisung wohl bekannt, ohne dass es diesbezüglich auch dinglicher Vollzugsakte bedarf. Es ist nichts anderes als ein Dreiecksverhältnis zwischen Drittem, Verwahrstelle und Beschuldigtem. Hier wie dort, überzeugt es nicht an dem formalen Umstand der Einzahlung festzumachen, wer Hinterleger ist und wem demzufolge der Freigabeanspruch zusteht. Wenn es - trotz der damit verbundenen verminderten Anreizfunktion im Hinblick auf die Pflichten des Beschuldigten für das weitere Strafverfahren - zulässig sein soll, dass ein Dritter dem Beschuldigten die Geldmittel zur Verfügung stellt (OLG Düsseldorf, StV 1990, 97), ist nicht erkennbar, warum nicht auch die unmittelbare Zuwendung des Dritten gleichsam im Namen des Beschuldigten als Eigenhinterlegung anzusehen sein soll. Hierfür kommt es, auch aus Gründen der Rechtssicherheit, auf den Hinterlegungsantrag an, nicht aber auf die Zulässigkeit der Hinterlegung. In anderen Worten: Wenn Dritthinterlegung nicht zulässig ist, die Sicherheitsleistung gleichwohl durch den Dritten im eigenen Namen erfolgt, ist die Hinterlegung mangels Hinterlegungsgrundes (§ 7 HintlG) unzulässig und darf keine Hinterlegungsanordnung ergehen. In Einzelfällen wird man vom Wortlaut des Hinterlegungsantrags abweichen können, etwa wenn ausdrücklich auf den Aussetzungsbeschluss Bezug genommen wird. Dies ist im Einzelfall eine Frage der Auslegung; die §§ 133, 157 BGB sind auch im öffentlichen Recht und spezifisch im Verfahrensrecht anwendbar. Eine "faktische Abänderung" wie sie das OLG Karlsruhe (NStZ-RR 2000, 375) für möglich hält, wenn die Dritthinterlegung nicht zugelassen wurde, überzeugt schon deswegen nicht, weil nicht nur die Interessen des Beschuldigten, sondern eben auch die des Dritten betroffen sind. Dieser verhält sich nicht widersprüchlich, wenn er irrtümlich als Dritter und nicht im Namen des Beschuldigten leistet. Der Dritte erfüllt damit keine rechtliche Pflicht gegenüber der Verwahrstelle, so dass auf seinen erkennbaren Willen abgestellt werden muss. Danach ist eine Abweichung von Aussetzungsbeschluss und Hinterlegung theoretisch und praktisch möglich. In diesen Fällen findet kein Ausgleich im Innenverhältnis statt; vielmehr ist schon die Auflage für die Aussetzung des Haftbefehls nicht erfüllt, weil die Sicherheit nicht wirksam bestellt wurde. Der Dritte kann daher hingegebenes Geld von der Hinterlegungsstelle zurückfordern.


    3. Fazit

    Damit ergibt sich folgendes Bild: Leistet der Dritte selbst als Hinterleger, kann er nur und erst dann Ersatz für die Sicherheit vom Beschuldigten verlangen, wenn die Sicherheit verfallen ist. Dafür muss sie wirksam bestellt worden sein und zudem nicht freigegeben worden sein (vgl. § 123 III StPO). Andernfalls, im Falle der Hinterlegung für und im Namen des Beschuldigten, kann sofort in vollem Umfang Ersatz verlangt werden.

    Aus Anlass der Berliner Abgeordnetenhauswahl - Darf es ein "fehlerhaftes Mandatsverhältnis" geben?


    Der Verfassungsgerichtshof Berlin hat mit Urteil vom 16.11.2022 weite Teile der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus für ungültig erklärt. Obwohl sich eine Mandatsrelevanz diverser Wahlfehler lediglich in Bezug auf die Zweitstimmen feststellen ließ, trat der Verfassungsgerichtshof - aus Sicht des Unterzeichners zurecht - einer "gespaltenen" Wahlwiederholung entgegen und befand, dass auch die Erststimmenwahl wiederholungsbedürftig sei (hierzu kritisch https://verfassungsblog.de/uber-wahlfehlerfolgen/). Aus verfassungstheoretischer Perspektiver spannender als die Frage nach der gespaltenen Wahlwiederholung erscheint die Problemstellung, ob sich mandatsrelevante Wahlfehler von Verfassung wegen unmittelbar, ipso iure auf die Zusammensetzung des Parlaments auswirken müssten. Man stelle sich vor, das Abgeordnetenhaus beschlösse ein Gesetz, das nur wegen der Stimme eines fehlerhaft gewählten Abgeordneten zustande kommt.


    1. Die einfachrechtliche Gesetzeslage

    Das Grundgesetz verhält sich zu dieser Frage nur am Rande. Nach Art. 41 Abs. 1 Satz 2 GG entscheidet der Bundestag, ob ein Abgeordneter die Mitgliedschaft "verloren" hat. Das Nähere regelt gem. Art. 41 Abs. 3 GG ein Bundesgesetz. Der Frage nach dem Verlust der Mitgliedschaft denklogisch vorgeschaltet ist allerdings die Frage nach dem Erwerb selbiger. Nur was bereits erworben wurde, kann auch verloren werden. Dies richtet sich gem. Art. 38 Abs. 3 GG wiederum nach einem Bundesgesetz. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG beschränkt sich darauf, allgemeine Grundsätze für die Durchführung der Wahl und das subjektive Wahlrecht (Art. 38 Abs. 2 GG) zu normieren. Dementsprechend ist die Frage, ob ein "eigentlich" nicht gewählter Abgeordneter ein solcher im Sinne des Grundgesetzes und damit zur Teilnahme an Abstimmungen befugt ist (Art. 38 Abs. 1 S. 2, 42 Abs. 2 GG) prima facie vollständig auf die Ebene des einfachen Gesetzesrecht ausgelagert worden.


    Nach den hierfür maßgeblichen §§ 45, 46 BWG gilt Folgendes. Nach § 45 Abs. 1 S. 1 BWG erwirbt ein "gewählter Bewerber" die Mitgliedschaft im Bundestag mit der abschließenden Feststellung des Ergebnisses durch den Bundeswahlleiter. Der Wortlaut scheint zunächst eindeutig: Durch die Bezugnahme auf einen "gewählten Bewerber" bringt das Gesetz zum Ausdruck, dass nur gewählt ist, wer nach der Wahl als Zusammenfassung der Einzelakte aller Wähler das erforderliche Quorum erreicht hat, wobei die Einzelakte freilich ihrerseits den hierfür geltenden Bestimmungen des BWG genügen müssen. Aus dieser Perspektive scheint die Feststellung des Wahlergebnisses deklaratorischen Charakter zu haben. Anderes ergibt sich aber aus dem systematischen Zusammenhang mit den §§ 46 f. BWG. Nach § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BWG "verliert" ein Abgeordneter die Mitgliedschaft bei Ungültigkeit der Wahl. Dies setzt einen ungültigen Erwerb der Mitgliedschaft kraft Feststellung des Wahlergebnisses voraus, denn ein nicht gemäß den Vorschriften des BWG auserkorener Bewerber ist nicht im Sinne des § 45 Abs. 1 S. 1 BWG "gewählt". Über die Ungültigkeit entscheidet wiederum der Bundestag bzw. auf der zweiten Stufe das Bundesverfassungsgericht (§ 47 Abs. 1 Nr. 1 BWG iVm Art. 41 Abs. 1, Abs 3 GG, Wahlprüfungsgesetz).


    2. Zeitpunkt der Rechtswirkungen

    Ist hiernach die Feststellung des Wahlergebnisses bei fehlerhaften Wahlen konstitutiver, tragender Grund für den Erwerb der Mitgliedschaft, stellt sich auf einer zweiten Ebene die Frage, ob der Verlust im Sinne des § 46 Abs. 1 BWG ex tunc oder nur für die Zukunft eintritt. Diese Frage lässt sich aus dem Wortlaut der Norm wiederum klar beantworten. Das Verb "verliert" ist zukunftsbezogen formuliert. Etwas kann nur verloren werden, wenn es schon erworben wurde. Damit ließe sich das Bild eines schlichten Nichterwerbs wie es § 45 Abs. 1 S. 1 BWG nahelegt nicht vereinbaren. Folglich ist nach der Konzeption des BWG auch der fehlerhaft gewählte Abgeordnete "echter" Abgeordneter im Sinne des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG und damit Träger organschaftlicher Rechte.


    3. Legitimationsansätze für ein fehlerhaftes Mandatsverhältnis

    Das Konzept eines an sich rechtsfehlerbehafteten, aber gleichwohl wirksamen Erwerbs ist Juristen zwar keineswegs fremd (a.), aber gleichwohl immer mit nicht unerheblichen Störgefühlen verbunden. Diese Störgefühle gründen sich auf verfassungsrechtliche Vorgaben (b.) und müssen daher auch durch diese ausgeräumt werden können (c.).


    a) Rechtsdurchsetzung versus Rechtssicherheit

    Insbesondere das einfache Rechtssystem kennt diverse Normregime, deren Zweck es ist, "eigentlich" rechtswidrige Entscheidungen und Akte Privater oder der öffentlichen Gewalt aus Gründen der Rechtssicherheit aufrecht zu erhalten. Im Ausgangspunkt erweist es sich im Hinblick auf den Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) als selbstverständlich, dass rechtswidrigen Akten die Anerkennung versagt bleibt. Häufig ist es ex ante aber nicht absehbar, ob eine der rechtlichen Beurteilung unterliegende Handlung den geltenden Bestimmungen gemäß erfolgt ist. Entweder mag die rechtliche oder die tatsächliche Seite des Lebensvorgangs schwer zu beurteilen sein. Verschiedene Gerichte mögen unterschiedliche Auffassungen vertreten. Aufgrund dieser Unsicherheit entstehen unangenehme Schwebezustände, die das Gesetz vermeiden will. Diese Schwebelage erklärt sich zweitens aus den realen und rechtlichen Folgen, welchen ebenjene unsichere Beurteilung als bloßer Nichtakt nach sich ziehen kann. Um diesen Schwierigkeiten zu begegnen sieht das Gesetz verschiedentliche Bestimmungen vor, die von der gänzlichen oder teilweisen Unbeachtlichkeit von Fehlern (aa.) bis hin zur bloßen ex nunc Unwirksamkeit reichen (bb). Das in §§ 46 f. BWG niedergelegte System erweist sich bei richtiger Betrachtung als Mischform (cc.)


    aa) Abwägungsintensive Planungsentscheidung

    Leitbildartig für komplexe Planungsentscheidungen, bei denen eine Vielzahl erheblich divergierender Interessen in einem ausdifferenzierten Verfahren zu koordinieren sind, sind die §§ 214 ff BauGB. Der Grund hierfür ist schnell erklärt. Muss ein Bauherr fürchten, dass ein Bebauungsplan für - ex tunc - unwirksam erklärt und damit der ihm erteilten, aber regelmäßig drittangefochtenen Baugenehmigung der Boden entzogen wird, findet der gerade erwünschte infrastrukturelle Ausbau nicht statt. Zu groß erscheint das Risiko, Investitionen in Millionenhöhe frustriert aufgewendet zu haben.


    Innerhalb des bauplanungsfehlerfolgenrechtlichen Systems ist für die hiesigen Zwecke aber wiederum zu unterscheiden: Während § 214 Abs. 1 BauGB Verfahrens- und Formfehler betrifft, ordnet § 215 BauGB eine noch weitergehende Unbeachtlichkeit von auch inhaltlichen Fehlern an und gewährt somit nach Ablauf eines Jahres Bestandsschutz. Bei näherem Hinsehen erweist sich § 214 Abs. 1 BauGB eigentlich als selbstverständlich: Verfahrensvorschriften sind kein Selbstzweck und nur dann fehlerrelevant, wenn sie sich auf das Ergebnis auswirken. Diesen Gedanken normiert bereits § 46 VwVfG für das allgemeine Verwaltungsverfahren. Nach Sinn und Zweck der verletzten Regeln ist hier kein "Durchschlagen" auf den zur Überprüfung gestellten Akt erforderlich, weil er sich inhaltlich nicht ausgewirkt hat. Wesentlich schärfer wirkt dagegen § 215 BauGB, der die inhaltliche Fehlerhaftigkeit als solche zwar anerkennt, den damit "eigentlich" vorhandenen Nichtaktakt aber trotzdem die Anerkennung zuspricht.


    bb) Fehlerhaftes Organverhältnis & Beschlussmängelrecht

    Ähnlich scharf wirkt die allgemein anerkannte Lehre vom fehlerhaften Organverhältnis und das in den §§ 241 ff AktG enthaltenem Beschlussmängelrecht. Während § 246 Abs. 1 AktG bloß anfechtbare Hauptversammlungsbeschlüsse bestandskräftig werden lässt, sind nach der vorgenannten Lehre unwirksam bestellte Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer einer AG bzw. GmbH lediglich für die Zukunft abbestellbar. Da die möglichen Fehler einer Organbestellung oder eines Hauptversammlungsbeschlusses äußerst vielfältige Erscheinungsformen annehmen können, ist eine interessenorientierte Systematisierung nicht möglich. Allgemein lässt sich sagen, dass § 246 Abs. 1 AktG tendenziell zu einer Einschränkung des Minderheitenschutzes führt. Die Beschlussmehrheit hat freilich ein tatsächliches Interesse an der zügigen Durchsetzung ihrer Beschlüsse, zumal in Fällen von Umwandlungen und Kapitalmaßnahmen erhebliche wirtschaftliche Werte zur Debatte stehen. Eine davon zu abstrahierende Frage ist jedoch, ob dieses Interesse auch rechtlich operationalisiert werden darf. Schließlich werden auch solche Beschlüsse bestandskräftig, die Vorschriften verletzen, welche gerade zum Schutz der Minderheitsaktionäre bestimmt worden sind. Als noch weitergehender erweist sich daher selbst bei fristgerecht erhobener Beschlussmängelklage § 246a AktG, der nichts anderes bewirkt, als den klagenden und zurecht (!) klagenden Aktionär vor vollendete Tatsachen zu stellen (vgl. § 246a Abs. 4 S. 2 AktG). Auf der anderen Seite besteht bei fehlerhaften Organen durchaus ein übergeordnetes Interesse von Gesellschaftsgläubigern und Aktionären an der einstweiligen Wirksamkeit derselben. Ohne ein solches Konstrukt fehlte es der Gesellschaft prima facia an einem tauglichen Haftungsadressaten (§ 93 AktG) und könnte die Gesellschaft nicht wirksam vertreten werden, was zulasten der Gläubiger geht. Es soll hier nicht vertieft werden, ob diese Defizite nach Rechtsscheinsgrundsätzen zu beheben wäre, was jedenfalls im Grundsatz bejaht werden kann. Zumindest zeigen diese Beispiele, dass eine Aufrechterhaltung fehlerhafter Entscheidungen umso eher der Rechtfertigung bedarf, je eher es um Vorschriften geht, die dem Schutz jener Rechtssubjekte dienen, welche die Unwirksamkeit geltend machen.


    cc) Einordnung des Wahlfehlerfolgenrechts

    Die rechtliche Behandlung von Wahlfehlern lässt sich in das oben beschriebene System einordnen. Hier ist zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden. Zunächst begegnet es erstens keinen Bedenken, wenn solche Fehler nicht durchschlagen, die sich inhaltlich nicht auswirken. Wenn ein Kandidat mit zwei Stimmen Vorsprung gewählt und davon eine Stimme falsch gezählt wird, berührt dies die Wahl des Kandidaten selbstverständlich nicht. Zwar mag die falsche Zählung der Stimme eine Verletzung des subjektiven Rechts des Wählers begründen, doch hat dieser aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG keinen Anspruch auf eine bestimmte Wahl. Seine Stimme ist in spezifischer Weise auf das Gesamtergebnis bezogen und in dieses eingebettet. Wenn seine Stimme nicht mandatsrelevant war, stellt es vielmehr eine Verletzung des Wahlrechts der anderen Wähler dar, wenn die Wahl des Kandidaten für ungültig erklärt wird. So klar die Abgrenzung unbeachtlicher von mandatsrelevanten Fehler in der Theorie sein mag, so schwierig ist diese in der Praxis zu leisten. Dies hängt mit der fehlenden Isolierbarkeit der fehlerhaften Stimmen zusammen und den erforderlichen, aber notwendig unsicheren prognostischen Annahmen, die gelegentlich als "hypothetische Kausalität" umschrieben werden. Vor diesem Hintergrund muss das sog. Gebot des geringstmöglichen Eingriffes des Bundesverfassungsgerichts gedacht werden.


    Das Bundesverfassungsgericht formuliert insoweit: "Deren Grenzen wären allerdings dann überschritten, wenn schwer wiegende Verstöße gegen die Grundsätze der Freiheit oder der Gleichheit der Wahl wie fortlaufende gravierende Verletzungen des Verbots der amtlichen Wahlbeeinflussung oder massive, unter erheblichem Zwang oder Druck ausgeübte Einflüsse privater Dritter auf die Wählerwillensbildung als mögliche Wahlfehler von vornherein außer Betracht blieben. Andererseits schließt das Erfordernis des Bestandsschutzes einer gewählten Volksvertretung (vgl. BVerfGE 89, 243 [253]), das seine rechtliche Grundlage im Demokratiegebot findet, es zumindest aus, Wahlbeeinflussungen einfacher Art und ohne jedes Gewicht schlechthin zum Wahlungültigkeitsgrund zu erheben. Der Eingriff in die Zusammensetzung einer gewählten Volksvertretung durch eine wahlprüfungsrechtliche Entscheidung muss vor diesem Bestandserhaltungsinteresse gerechtfertigt werden. Je tiefer und weiter die Wirkungen eines solchen Eingriffs reichen, desto schwerer muss der Wahlfehler wiegen, auf den dieser Eingriff gestützt wird". (BVerfGE 103, 111 Rn. 105).


    Aus Sicht des Unterzeichners geht es hier weniger um ein aus Art. 20 Abs. 2 GG abzuleitendes Bestandsschutzinteresse (siehe dazu auch b.), sondern vielmehr um ein hermeneutisches Problem. Welche Stimmen in welchem Wahlkreis wegen welchen Wahlfehlers anders ausgefallen wären, lässt sich ex post schlechterdings nur vermuten, aber nicht mit einem brauchbaren Grad an Gewissheit feststellen. Im Ergebnis geht die Rechtsprechung daher notgedrungen zu einer normativen Betrachtung über. Auch dies kennt das einfache Recht in gewissen Fallkonstellationen im aktienrechtlichen Beschlussmängelrecht. Für eine weitere Rationalisierung könnte der Gesetzgeber immerhin dadurch sorgen, dass erstens bestimmte, verfassungsrechtlich unbedenkliche - Art. 38 Abs. 3 GG inkorporiert gerade nicht das gesamte BWG! - Wahlfehler ausgeklammert und zweitens gesetzliche Vermutungen bei besonders gewichtigen Fehlern statuiert werden.


    Man sollte sich aber zweitens davor hüten, aus diesem Erkenntnisproblem ein verfassungsfestes Bestandsinteresse des Bundestags abzuleiten. Das ist eine andere Frage, die §§ 46 f. BWG dahingehend beantworten, dass eine an sich fehlerhafte, mandatsrelevante Wahl nur dann auf die Mandatsstellung Einfluss nimmt, wenn dies im Wahlprüfungsverfahren festgestellt wird.


    b) Verfassungsrechtliche Bedenken

    Ob diese Rechtsfolgen einer an sich ungültigen Wahl verfassungsrechtlich legitimiert sind, beurteilt sich - insoweit ist dem Bundesverfassungsgericht zuzustimmen - an dem Demokratieprinzip. Dieses ist der ursprünglichste Geltungsgrund jedes staatlichen Handelns gem. Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus." Diese Gewalt wird in Wahlen unter Beachtung des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG durchgeführt. Das Volk selbst alleine ist Träger der gesamtstaatlichen Verantwortung, des Staates und seiner Organe an sich. Die Wahl ist der konstituierende Akt für alle Organe und jedes Staatshandeln. Den Bundestag und Abgeordnete gibt es nur, weil es ein Staatsvolk gibt, das den Bundestag gewählt hat. Der Bundestag und alle sonstigen Organe üben nur derivative, abgeleitete Gewalt aus. In Bezug auf den Wahlakt kann es daher notwendig kein eigenes Bestandsinteresse von Organen gegenüber ihrem Prinzipal - dem Wahlvolk in seiner Gesamtheit - geben. Die Grundsätze des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sowie die diese Grundsätze umsetzenden Bestimmungen des BWG dienen in keiner Weise einem wie auch immer gearteten Schutz von Organstellungen, denn diese Organe sind allesamt nur durch das Staatsvolk gekorene Träger staatlicher Gewalt. Würde es keine einzige Stimmabgabe bei der Bundestagswahl geben, würde das staatliche Gefüge schlechterdings zusammenbrechen, weil es keinerlei legitimatorische Grundlage mehr hat.


    Der Schutzzweck des Demokratieprinzips erfordert mithin im Ausgangspunkt die Behandlung einer fehlerhaften Wahl als schlichte Nichtwahl, soweit der Fehler reicht. Dies erschwert die Rechtfertigung eines fehlerhaften Mandatsverhältnis, innerhalb dessen Gewalt ausgeübt wird, die nur deswegen ausgeübt werden darf und kann, weil das Volk es will. Es gibt auch innerhalb des Wahlvolkes kein anerkennenswertes Interesse an der Aufrechterhaltung eines fehlerhaften Wahlergebnisses. Der Wahlberechtigte oder eine Gruppe von diesen hat kein Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis, sondern nur auf die Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Wahl nach den Grundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Dass politische Mehrheiten dadurch wieder ins Wanken geraten, ist unerheblich. Die Interessen tatsächlicher Art dürfen rechtlich nicht operationalisiert werden, denn es gibt keinerlei höhere Autorität als das Staatsvolk in seiner Gesamtheit, das gem. Art. 146 GG sogar zur Verfassungsneugebung berechtigt ist (dies erklärt sich allerdings schon aus der natürlichen Souveränität des Staatsvolkes; Art. 146 GG ist keinesfalls konstitutiv!). Eine Abwägung zwischen


    c) Versuche einer Rechtfertigung

    Vergegenwärtigt man sich diesen Zusammenhang von Wahl und Organstellung scheint eine Rechtfertigung ausgeschlossen. Anderes gälte, wenn man das Prinzip der Volkssouveränität, das in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG eigentlich klar zum Ausdruck kommt, aus der Verfassung selbst heraus relativieren kann.


    aa) Rechtsschutzbezogene Überlegungen

    Geht man davon aus, dass ein fehlerhaft gewählter Abgeordneter von Verfassung wegen ein Nichtabgeordneter ist, die §§ 46 f. BWG in anderen Worten verfassungswidrig sind, stünde bei jeder Verfassungsbeschwerde oder Normenkontrolle inzident auch die ordnungsgemäße Zusammensetzung des Bundestags zur rechtlichen Nachprüfung. Das Wahlprüfungsverfahren nach Art. 41 GG ist allerdings nach allgemeiner und zutreffender Auffassung abschließend. Dies würde letztlich unterlaufen. Doch sind diese Erwägungen nicht geeignet, das Prinzip der Volkssouveränität materiell zu erschüttern. Im Übrigen ist es in einer vielschichtigen Rechtsordnung auch keine Besonderheit, dass verschiedene Gerichtsverfahren aufeinander abzustimmen sind.


    bb) Versteckte Geltungserhaltung in Art. 41 Abs. 1 S. 2 GG

    Nach dem Wortlaut des Art. 41 Abs. 1 S. 2 GG entscheidet der Bundestag aber auch über den Verlust der Abgeordnetenstellung. Bezieht man dies auch auf fehlerhafte Wahlen, was schon aufgrund der systematischen Verortung im Zusammenhang mit der Wahlprüfung naheliegt, ist dies ein gangbarer Weg der Argumentation. Dem steht jedoch entgegen, dass es auch anders gelagerte Tatbestände gibt, bei denen ein Verlust der Mitgliedschaft die Folge ist. Da der Bundestag lediglich "auch", also neben der Wahlprüfung, über den Verlust der Mitgliedschaft entscheidet und ebenjener "Verlust" die selbstverständliche Folge einer erfolgreichen Wahlprüfung im Sinne des Art. 41 Abs. 1 S. 1 GG ist, ist diese Überlegung von nur bedingter Überzeugungskraft.


    cc) Praktikabilität

    Das ehrlichste und zugleich schwächste Argument sind praktische Erwägungen. Selbstverständlich haben diese ein erhebliches tatsächliches Gewicht und sind geeignet, die Staatsführung durch den Bundestag nicht nur unerheblich zu beeinträchtigen. Allerdings muss man die Frage stellen, woraus sich ein Erhaltungsinteresse des Staates gegenüber dem Staatsvolk ergeben soll, wenn dieses sogar die Rechtsmacht hat, eine neue Verfassung zu beschließen oder den Organen schlicht die Legitimation insgesamt zu versagen. Genau das ist die Konsequenz der Volkssouveränität, wenn man sie konsequent zu Ende denkt.


    4. Fazit

    Das Kernproblem in der rechtlichen Beurteilung von Wahlfehlern ist ein Erkenntnisproblem. Hat man dieses einmal bewältigt, ergeben sich die Rechtsfolgen in erfrischender Klarheit aus Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG. Abgeordnete, die fehlerhaft gewählt wurden, sind entgegen §§ 46 f. BWG keine Abgeordnete. Die Staatsgewalt geht vom Staatsvolk und nicht dem Bundeswahlleiter aus. Die Diskussion sollte sich daher von abstrakten Überlegungen zu einem nicht existenten Bestandsschutz lösen und pragmatische Kriterien entwickeln, mit deren Hilfe man die Mandatsrelevanz besser feststellen kann. Normative Kriterien sind hierbei durchaus berücksichtigungswürdig, weil der Umgang mit Fehlern nicht zuletzt davon abhängt, welchen Schutzzweck die verletzte Norm aufweist, können aber letztlich nicht den Ausschlag geben. Eine fehlerhafte Mandatsstellung gibt es indes nicht und darf es auch nicht geben.

    Zur Zvilrechtshaftung versammlungs- und/oder strafrechtswidriger Straßenblockaden


    Die verkehrsbehindernden Versammlungen des Klimakollektivs "Letzte Generation" sind dieser Tage in aller Munde. In der juristischen Diskussion sticht vor allem die - wiederbelebte - strafrechtliche Diskussion rund um den Gewaltbegriff des § 240 Abs. 1 StGB und der (bloß scheinbar?) gefestigten Zweite-Reihe-Rechtsprechung des BGH, wonach die Blockierer durch den mittelbar-täterschaftlichen Einsatz der ersten Reihe an Fahrzeugen körperlich wirkenden Zwang ausüben, hervor. In der Tat sind die maßgeblichen Grundsätze zur Rechtswidrigkeit der Nötigung und den versammlungspolizeilichen Eingriffsbefugnisse weitgehend geklärt. Größere, vor allem schadensrechtliche Probleme, können demgegenüber bei der Frage nach einer zivilrechtlichen Deliktshaftung der Täter auftreten. Diese Grundfragen sollen in diesem Beitrag angerissen werden.


    I. Haftungsbegründendes Verhalten

    Anknüpfungspunkt jedes Delikts ist ein Verhalten in der eigenen Person, sei es durch Tun oder Unterlassen. Unter den Voraussetzungen des § 830 Abs. 1 S. 1 BGB findet aber auch eine Haftung für fremdes Verhalten statt, die sich aus einem eigenen deliktsrechtswidrigen Beitrag des Mittäters legitimiert. Das maßgebliche Geschehen muss hierfür vom Täterwillen getragen und in den Vorsatz der Täter aufgenommen worden sein. Dass der einzelne Demonstrant schon körperlich außerstande ist, eine ganze Straße alleine zu blockieren, ist also unschädlich. Schon das gemeinschaftliche Zusammenwirken im Sinne funktioneller Tatbeitragserbringung kann eine Delitkshaftung begründen. Sorgfältig sind jedoch für jedes einzelne Delikt die Voraussetzungen der Mittäterschaft gesondert zu prüfen. Denn der mittäterschaftliche, vom Vorsatz umfasste, Tatplan darf sich nicht in einem abstrakten, außerdeliktischen Ziel oder der bloßen Tätigkeit als solcher erschöpfen. Auch die jeweils verletzten Rechtsgüter müssen in den Tatplan aufgenommen werden.


    II. Rechtsgutsindifferente Haftungsgrundlagen

    Wenig Probleme ergeben sich tendenziell, bejaht man die Voraussetzungen des § 826 BGB. In Abgrenzung zu den sonstigen deliktsrechtlichen Haftungsgrundlagen ist eine konkrete Rechtsgutsverletzung nicht erforderlich. Die Verursachung jedes Schadens im Sinne von §§ 249 ff BGB reicht hin, wenn dieser vorsätzlich und in einer das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden Weise verursacht wird. Einen eigenen haftungsausfüllenden Tatbestand kennt diese Norm nicht und werden auch Fragen nach dem Schutzzweck der verletzten Verhaltensnorm obsolet. Die Haftung rechtfertigt sich alleine aus der vorsätzlich-sittenwidrigen Schadenszufügung. Vorsatz meint Wissen und Wollen der Schadenszufügung. Vielfach wird das voluntative Element des Vorsatzes dahingehend missverstanden, dass es auf - praktisch nicht feststellbare - innere Haltungen des Täters ankomme. Umschrieben wird dies mit Formeln wie dem Billigen im Rechtssinne oder dem Vertrauen auf einen guten Ausgang. Auch dolus eventualis setzt die willentliche Tatbestandsverwirklichung voraus. Das Wollen des Täters kann aber nicht im alltagssprachlichen Sinne, sondern nur im Rechtssinne verstanden werden. Auch wer nur die Tatbestandsverwirklichung als sicher voraussieht, ohne diese "zu wollen" (sog. dolus directus zweiten Grades), will die Tat, weil er trotz dieser Einsicht gehandelt hat. Mit der Behauptung, er habe die Tat nicht gewollt, kann er vor Gericht dann nicht mehr gehört werden. Nicht anders verhält es sich, wenn die Tatbestandsverwirklichung nicht als sicher, sondern nur als wahrscheinliche oder doch zumindest mögliche Folge des eigenen Handelns vorhergesehen und wider dieser Einsicht gehandelt wurde. Die wenigsten Geschehensabläufe kann man mit der erforderlichen Sicherheit vorhersehen; ein Wissen um zukünftige Umstände kann es in diesem Sinne bei strenger Betrachtung ohnehin nicht geben. Ob man dieses Verständnis des Vorsatzes mit Puppe als Vorsatzgefahr begreift oder mit der Rechtsprechung als Frage tatrichterlicher Beweiswürdigung ansieht, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Entscheidend ist nur, dass es nach Art und Umfang der Tat(en) und allgemeiner Lebenserfahrung als von den Tätern wahrscheinlich bewertet wurde, dass ein Schaden entsteht. Dies reicht für die vorsätzliche Schadenszufügung aus.


    1. Verdienstausfallschäden (§ 252 BGB)

    Bekanntermaßen wird der Straßenverkehr benutzt, um Arbeitsstellen zu frequentieren oder geschäftliche Termine wahrzunehmen. Nachdem der Arbeitnehmer nach allgemeiner Ansicht das Wegerisiko zu tragen hat, kann bei wiederholtem Nicht- oder Späterscheinen durchaus eine zumindest personenbedingte Kündigung erfolgen. Es ist daher zu überlegen, ob der Unterschiedsbetrag zum Arbeitslosengeld von den Straßenblockierer zu tragen ist. Hierbei stellt sich das besondere Problem, dass eine solche Kündigung allenfalls bei wiederholtem Späterscheinen möglich ist (a.). Anders gelagert sind die Probleme um Geschäftstermine. Hier genügt bereits die ein- und erstmalige Blockade des Autofahrers zur Schadensverursachung. Problematisch ist dabei, ob die groben Umstände des Schadens in den Vorsatz aufgenommen worden sind (b.).


    a) Blockadeursächliche Kündigung des Arbeitnehmers

    Kausal für die Schadensentstehung ist die auch nur einmalige Blockade nach den Grundsätzen kumulativer Kausalität, wenn das blockadeursächliche Späterscheinen entweder der "Tropfen" ist, "der das Fass zum Überlaufen gebracht hat" oder zum Überlaufen des Fasses beigetragen hat. Früheres sowie späteres Nicht- oder Späterscheinen unterbricht den Zurechnungszusammenhang nicht. Bei verschiedenen Deliktstätern, die einander nicht zurechenbare Beiträge erbringen, ergibt sich eine gesamtschuldnerische Haftung schon aus § 840 Abs. 1 BGB. Dies betrifft insbesondere gleichartige Blockaden des Kollektives "Letzte Generation" zu späteren Zeitpunkten in örtlicher Nähe zueinander. Der Vorsatz muss nämlich schon bei der Tatbegehung gefasst worden sein. Freilich ergeben sich - nach diesseits vertretener Auffassung - nicht überwindbare Probleme im Hinblick auf die Vorsatzfeststellung. Ob eine von der Blockade betroffene Person entweder schon früher der Arbeit ferngeblieben ist oder später fernbleiben wird und die Straßenblockade daher das zuvor nur latent vorhandene Risiko einer Kündigung aktiviert, entzieht sich der Kenntnis der Deliktstätern. Äußerst zweifelhaft scheint auch die Annahme, es entspreche allgemeiner Lebenserfahrung, dass auf einem Streckenabschnitt eine bestimmte Anzahl von Personen davon bedroht ist, aufgrund morgendlichen Späterscheinens gekündigt zu werden. Dies ist letztlich bloßer Zufall. Ebenso zufällig sind die Umstände der Schadensentstehung, die nicht zuletzt auch abhängig ist von dem guten Willen des Arbeitgebers. Es liegen nach diesseitiger Rechtsansicht keine Umstände vor, die das Urteil einer überwiegenden Schadenswahrscheinlichkeit tragen können, welche den Tätern den Einwand abschneiden, den Schaden nicht gewollt zu haben.


    b) Sonstiger entgangener Gewinn

    Diese Grundsätze lassen sich auch auf sonstige Verdienstausfallschäden übertragen. Hierfür streitet zwar nicht, dass den Tätern die Schadenshöhe nicht bekannt ist, denn dies ist gemeinhin nicht erforderlich. Doch müssen jedenfalls die groben Umstände der Schadensentstehung in den Vorsatz aufgenommen werden. Abgesehen von typisierten Fallgruppen von blockadebedingten Verdienstausfallschäden wie unter a) beschrieben, sind die verschiedenen Möglichkeiten des entgangenen Gewinns viel zu unterschiedlich, als dass man den Deliktstätern den Einwand abschneiden könnte, den Schaden nicht gewollt zu haben. Es bleibt lediglich ein, in der Praxis indes nur bedingt relevanter, Schadensposten, der jedenfalls zu ersetzen ist: der unmittelbare Verdienstausfall, den etwa der Arbeitnehmer aufgrund der synallagmatischen Verknüpfung von Arbeit und Lohn gem. § 326 Abs. 1 BGB erleidet. Zahlt der Arbeitgeber, wie es häufig aufgrund der für einen Abzug erforderlichen Buchungskosten in der Praxis geschehen wird, trotzdem den vollen Lohn aus, ist eine Vorteilsanrechnung jedenfalls nicht vorzunehmen. Die rechtsgrundlose Lohnleistung ist als freiwillige Leistung Dritter zu werten, die dem Schädiger nicht zugute kommen darf. Im Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer ist gegebenenfalls nach den §§ 326 Abs. 4, 346 Abs. 1 BGB zu verfahren.


    2. Unfall- und Unfallfolgeschäden

    Weniger durch den Zeitverlust und mehr durch das ordnungswidrige Betreten der Straße können Unfallschäden, insbesondere Auffahrunfälle wegen des plötzlich erforderlichen Bremsvorgangs, entstehen. Diese werden von den Deliktstätern, je nach Situation, durchaus eventualvorsätzlich verursacht. Die Annahme vorsätzlichen Verhaltens liegt dort besonders nahe, wo Autofahrer erfahrungsgemäß nicht mit Menschen rechnen müssen und sich folglich auch nicht auf die Situation einstellen können. Wird also etwa eine Blockade auf einer Autobahnauffahrt durchgeführt, ohne dass eine doppelte Absicherung dahingehend erfolgt, dass keine Autos die Straße benutzen und wird nicht sichergestellt, dass auffahrende Autos die Blockade rechtzeitig wahrnehmen können, liegt der Vorsatz besonders nahe. Anders verhält es sich in Innenstädten, wenn der Straßenabschnitt keine auffällig hohe Geschwindigkeitsfreigabe aufweist. Hier darf auf einen guten Ausgang vertraut werden, wenngleich dies im Ergebnis eine Frage des Einzelfalls ist.


    3. Sittenwidrige Schadenszufügung

    Ferner muss sich das schadensbegründende Verhalten nach den Umständen, Art und Beweggründen als sittenwidrig darstellen. Für die unter 2. beschriebenen Schäden kann dies im Grundsatz bejaht werden, ohne dass es auf die Rechtmäßigkeit der Versammlung als solcher oder eine Rechtfertigung nach § 240 Abs. 2 StGB ankommt. Schließlich betrifft diese Art der Schadenszufügung nicht die Versammlung als solche, sondern alleine die Art und Weise der Durchführung. Das Sittenwidrigkeitsverdikt folgt dabei aus der potentiellen Lebensgefährlichkeit eines solchen Unfalls und der Betriebsfremdheit des Eingriffes. Selbiges gilt im Übrigen auch für Schäden, die dadurch entstehen, dass Rettungswägen die Straße nicht benutzen können. Auch dieser Vorwurf ist deliktsrechtlich unabhängig von der Durchführung der Blockade als solcher. Anders verhält es sich mit Schäden, die in innerem Zusammenhang mit der Blockade entstehen. Hier ist die Rechtswidrigkeit der Versammlung keine hinreichende, aber zumindest notwendige Voraussetzung der Sittenwidrigkeit, denn eine rechtmäßige Versammlung darf nicht als sittenwidrig angesehen werden. Umgekehrt kann eine Versammlung aber nicht deswegen als sittenwidrig beurteilt werden, weil sie rechtswidrig ist. Dies entspricht auch der ständigen zivilgerichtlichen Rechtsprechung, die insbesondere im Kapitalmarktrecht streng zwischen Rechtmäßigkeit und Sittenwidrigkeit differenziert. Ein Gesetzesverstoß kann eine Haftung unter dem Gesichtspunkt der Schutzgesetzverletzung gem. § 823 Abs. 2 BGB begründen. Fehlt es an der Schutzgesetzeigenschaft oder dem Schutzzweckzusammenhang dürfen diese Erfordernisse nicht durch das Hinzutreten eines entsprechenden Vorsatzes substituiert werden, zumal von § 823 Abs. 2 BGB vor allem Strafgesetze erfasst werden, welche Vorsatz im Grundsatz stets voraussetzen, § 15 StGB.


    Was übrige Schäden anlangt, kann man sich in der Sache an den Kriterien zu § 240 Abs. 2 StGB orientieren. Vor allem sticht hervor, dass die Blockade Personen trifft, die nicht Adressaten des aktivistischen Begehrens sind. Nach eigenen, wiederholten Aussagen richten sich die Blockaden an die Politik. Nachteile erleiden indessen zumeist berufstätige Personen, die deswegen schlimmstenfalls ihre Arbeitsstelle verlieren könnten. Etwaige, gut gemeinte, Fernziele können in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden. Politische Anliegen sind über die hergebrachten Kanäle in die politische Diskussion einzubringen. Dass die Forderungen der Aktivisten nicht erfüllt werden, ist als demokratische Entscheidung hinzunehmen und kann von den betroffenen Geschädigten ohnehin nicht beeinflusst werden. Besonders tückisch sind diese Proteste auch, weil sie im Voraus nicht angekündigt werden und - wie schon angedeutet - vor allem während des Berufsverkehrs stattfinden. Sie zielen gerade darauf ab, Empörung hervorzurufen und Aufmerksamkeit für das eigene Anliegen herzustellen. Damit werden indes die berechtigten Anliegen der Autofahrer den eigenen politischen Interessen eigenmächtig und ohne Rücksicht auf Verluste untergeordnet. Das Verhalten lässt eine Geisteshaltung erkennen, die auf Vorteilserlangung auf Kosten anderer abzielt und bestehende Regeln bewusst missachtet. Die Aussage, man "kämpfe" auch für die Autofahrer, kann nicht verfangen, weil deren Anerkennung darauf hinausliefe, den betroffenen Autofahrern einen politischen, klimaschützenden Willen aufzuzwingen. Nach diesseitiger Rechtsauffassung sind die Blockaden mithin im Sinne von § 826 BGB sittenwidrig. Häufig wird es aber nicht zur Haftung kommen, weil entsprechende Schäden nicht in den Tätervorsatz aufgenommen worden sind.


    III. Rechtsgutsbezogene Haftungsgrundlagen

    Anders gelagert sind die Probleme des § 823 Abs. 1 und 2 BGB. Hier muss der entstandene Schaden nicht in den Tätervorsatz aufgenommen werden, aufgrund der erforderlichen Anwendung des § 830 Abs. 1 S. 1 BGB wohl aber die jeweilige Rechtsguts- bzw. Schutzgesetzverletzung (1.). Anschließend fragt sich, ob die Verletzung des Rechtsguts bzw. Schutzgesetzes in adäquat kausaler Weise zur Entstehung eines Schadens geführt hat, insbes., ob sich ein Risiko realisiert, vor dessen Verwirklichung die jeweils verletzte Verhaltensnorm gerade schützen wollte.


    1. Haftungsbegründung

    a) Rechtsgutsverletzung, § 823 Abs. 1 BGB

    Bei Straßenblockaden kommen gleich mehrere Rechtsgüter infrage, die verletzt sein könnten, allen voran das Sacheigentum. Nach - allerdings nicht unbestrittener - Ansicht der Rechtsprechung schützt das Sacheigentum im Sinne der §§ 903 ff BGB auch die Möglichkeit bestimmungsgemäßer Nutzung. Diese wird freilich zeitweilig vollständig aufgehoben, wenn dieses weder vor- noch rückwärts bewegt werden kann, ohne dass der betroffene Autofahrer seinerseits ein Delikt begeht. An dieser Auffassung ist festzuhalten. Schon § 903 BGB enthält neben der Abwehrbefugnis auch das Recht, "mit der Sache nach Belieben zu verfahren", "soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen". Der mögliche Einwand, die Anerkennung einer Rechtsgutsverletzung laufe darauf hinaus, das Sacheigentum dahin zu erweitern, dass es auch äußere Bedingungen der Nutzungen - hier: dem Gemeingebrauch der Straße als subjektives Recht des öffentlichen Recht - schütze, verkennt, dass die äußeren Gegebenheiten und Bedingungen der Nutzung im Falle rechtswidriger Blockaden erfüllt sind. § 903 S. 1 BGB beschränkt die Nutzungsbefugnis aber nur dann, wenn das Gesetz nicht entgegensteht. Das ist nicht der Fall. Aktivlegitimiert ist der jeweilige Eigentümer das blockierten Fahrzeugs. Im Falle geleaster und sicherungsübereigneter Fahrzeuge mag man unter dem Gesichtspunkt der zufälligen Schadensverlagerung dem Dritten gestatten, den Schaden zu liquidieren. Häufig sehen entsprechende vertragliche Abreden aber ohnehin entsprechende Vorausabtretungen vor, die gegebenenfalls ergänzend auszulegen sind, soweit sie unmittelbar nur Unfallschäden betreffen.


    Zudem ist für eine Drittschadensliquidation kein Raum, wenn man auch den Besitz als deliktsrechtliches Schutzgut ansieht. Die Rechtsprechung bejaht dies immerhin für den berechtigten Besitz. Mit Blick auf den negatorischen Schutz, der selbst dem fehlerhaften Besitzer gewährt wird (§§ 861 f BGB), ist die Berechtigung des Besitzes indes nicht erforderlich. Auch der unberechtigte Besitz gewährt jedenfalls possesorischen Schutz gegenüber Jedermann. Genau dies zeichnet aber das absolute gegenüber dem nur obligatorischen Recht aus. Warum die obligatorisch berechtigte Nutzung zur Aktivierung des deliktsrechtlichen Schutzes führen soll, erschließt sich dagegen nicht. Dass der Besitz kein Recht im engeren Sinne, sondern eine tatsächliche Position ist, spielt keine Rolle. Schließlich steht auch der Anerkennung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nicht entgegen, dass die Wahrnehmung und Darstellung einer Person in erster Linie ein tatsächlicher Zustand bzw. Umstand ist. Ausreichend ist der dahingehende negatorische Schutz gegenüber Jedermann.


    Unproblematisch sind auch die Fälle der Körperverletzung, wenn ein Rettungswagen nicht durchkommt. Hier reicht es richtigerweise zur Exkulpation nicht aus, wenn die Deliktstäter prinzipiell bereit sind, Rettungswägen passieren zu lassen und sich hierfür einige Personen nicht festkleben. Eine Haftung besteht auch dann, wenn der Rettungswagen gar nicht zur Passierstelle gelangt, weil die übrigen Autofahrer keine Rettungsgasse gebildet haben. Zwar ist es in der Tat auch Verantwortung der Autofahrer eine Rettungsgasse zu bilden. Doch regelmäßig ist dies schon aus Platzgründen in der Praxis gar nicht möglich. Hier kommt nochmals der Überraschungseffekt von unangekündigten Blockaden zum Tragen. Davon abgesehen läuft diese auf eine Enthaftung wegen Fehlverhalten Dritter hinaus, was grundlegenden deliktsrechtlichen Prinzipien widerspricht (vgl. schon für die Haftungsaussfüllung § 840 Abs. 1 BGB, der ausdrücklich auch Nebentäter erfasst). Die Aktivisten setzen die Ausgangsursache für die Schwierigkeiten, die Autofahrer mit der Bildung einer Rettungsgasse haben und konnten dies auch vorhersehen. Es handelt sich schlicht um ein vermeidbares Risiko, das vor dem Hintergrund lebensgefährlicher Gefahren bei verzögerter Einlieferung von Kranken in das Krankenhaus schlechthin untersagt ist. Ein wie auch immer geartetes haftungsrechtliches Regressverbot gibt es nicht.


    Die Aktivisten handeln willentlich im Hinblick auf die Blockade und die Funktionsstörung der Autos. Insofern liegen ohne Weiteres die Voraussetzungen mittäterschaftlichen Handelns vor. Eine Rechtfertigung ist nicht erkennbar und kann insbesondere nicht aus Art. 8 GG folgen. Grundrechte wirken auch nicht mittelbar gegenüber Privaten. Ist ein Gericht der Auffassung, dass eine zivilrechtliche Haftung, vermittelt durch ein klagestattgebendes Urteil (Art. 1 Abs. 3 GG!), gegen Art. 8 GG verstößt, muss es das Gesetz im Rahmen der konkreten Normenkontrolle zur verfassungsrechtlichen Überprüfung vorlegen. Dem Gericht ist es demgegenüber verwehrt, contra legem zu judizieren (vgl. insoweit zutreffend Oberstes Gericht vom 21.01.2022 - Az: 4 BvT 1/22 unter 3) c)) und Tatbestände über Wortlaut, erkennbare Systematik oder Telos hinaus "verfassungskonform" zu interpretieren und so die angebliche mittelbare Drittwirkung von Grundrechten zum Tragen zu bringen. Rechtfertigungsgründe sind nicht erkennbar und es erschließt sich auch nicht, weshalb Art. 8 GG dazu zwingen können sollte, Eingriffe in Rechtsgüter Dritter zu legitimieren. Vielmehr indiziert die Tatbestandsmäßigkeit die Rechtswidrigkeit. Ein zureichender Schutz der Versammlungsfreiheit ist schon dadurch gewährleistet, dass eine deliktsrechtlich relevante Eigentums- oder Besitzverletzung erst dann vorliegt, wenn die Nutzungsmöglichkeit vollständig aufgehoben ist. Nicht haftungsbegründend sind demgegenüber bloße Verkehrsbehinderungen und Verzögerungen, die wegen eines Aufzugs eintreten.


    b) Schutzgesetzverletzung, § 823 Abs. 2 BGB

    Auf den ersten Blick erscheint die Herleitung zusätzlich aus § 823 Abs. 2 BGB neben der festgestellten Erfüllung des haftungsbegründenden Tatbestands des § 823 Abs. 1 BGB überflüssig. Dieser Eindruck täuscht, bedenkt man, dass Besitz die tatsächliche Sachherrschaft bedeutet und demnach alleine der jeweilige Autofahrer Besitzer im Sinne des § 854 Abs. 1 BGB sein dürfte. Beifahrern und Mitinsassen kann über § 823 Abs. 2 BGB, § 240 Abs. 1 StGB geholfen werden. Aus zivilistischer Perspektive macht die Unterscheidung zwischen der ersten und zweiten Reihe wertungsmäßig aber keinen Sinn. Es wäre dann nämlich vom Zufall der Eigentumsinhaberschaft oder dem unmittelbaren Besitz abhängig, ob eine Haftung besteht oder nicht. Mag man auch eine gespaltene Normauslegung des § 240 Abs. 1 StGB mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot ablehnen, so ist es unproblematisch möglich auch Dritte in den Schutzbereich einzubeziehen. Denn ein objektiver Verstoß liegt allemal vor, soweit die Blockade verwerflich iSv § 240 Abs. 2 StGB ist. Hiervon ist regelmäßig auszugehen (siehe schon oben II. 3.). Ob ein Gesetz Schutzgesetz ist sowie wer und was davon geschützt wird, ist aber jedenfalls im Kontext des § 823 Abs. 2 BGB eine originär zivilrechtliche Frage und nicht abhängig von der strafrechtlichen Bestimmung des Opfers. Insoweit erscheint eine Abweichung von der Zweite-Reihe-Rechtsprechung haftungsrechtlich vertretbar.


    2. Haftungsausfüllung

    a) Unmittelbare Schäden

    Der funktionsstörungsbedingte Nutzungsausfall kann nach seit jeher streitiger Rechtsprechung gem. § 251 BGB liquidiert werden. Nehmen sich Mitinsassen ein Taxi, das sie vom Stauende wegbefördert, können sie auch die Mietwagenkosten gem. § 249 Abs. 2 BGB ersetzt verlangen. Dem Fahrer wird man demgegenüber nicht gestatten können, das Auto abzustellen, abschleppen zu lassen und die Folgekosten den Täter aufzuerlegen. Dies stellt nämlich ein Verstoß gegen die StVO dar, den der Fahrer nicht für erforderlich halten durfte. Für Unfallschäden ergeben sich keine Besonderheiten. Eine Mitverursachung kraft mitwirkender Betriebsgefahr ist nicht zwingend anzunehmen. Je betriebsfremder der Eingriff ist, umso eher kann die Betriebsgefahr gänzlich zurücktreten, ohne dass es auf das Vorliegen höherer Gewalt iSv § 7 Abs. 2 StVG ankommt, die regelmäßig nicht gegeben sein dürften. Ein Mitverschulden ist anzurechnen, soweit der Unfall auch auf Obliegenheitsverletzungen der Autofahrer zurückgeht. Hier ist ein Nachweis eines Verstoßes gegen die StVO erforderlich.


    b) Mittelbare Schäden

    Vor dem Hintergrund des Schutzzweckzusammenhangs fraglich erscheint die Ersatzfähigkeit von Verdienstausfällen. Ersatzfähig sind hiernach nur solche Schäden, denen durch das Verhaltensgebot, gegen das die Täter verstoßen haben, vorgebeugt werden sollte. Es ist folglich danach zu fragen, ob das Verbot, Eigentum oder Besitz bzw. im Falle des § 823 Abs. 2 BGB, § 240 Abs. 1 StGB die Freiheit der Willensbildung und -äußerung, nicht zu beeinträchtigen und zu verletzen gerade auch vor Verdienstausfällen schützen soll, die deswegen entstehen, weil man mit dem nicht funktionsfähigen Auto keine Termine wahrnehmen und nicht (rechtzeitig) bei der Arbeit erscheinen kann. Dagegen könnte sprechen, dass die termingerechte Fortbewegung ein allgemeines Lebensrisiko darstellt, das jedem persönlich zugewiesen ist. Man könnte argumentieren, es sei niemand auf das Auto als Fortbewegungsmittel angewiesen. Weil man es dennoch nutze, begebe man sich bewusst in die Gefahr blockiert zu werden. Im Übrigen haftet eine Verdienstchance auch nicht dem Sacheigentum als solches an. Gegen eine solche Sichtweise spricht schon die Überlegung, dass es keine wesentlich zuverlässigeren Verkehrsmittel als das Auto gibt, dessen Nutzung gesetzlich erlaubt ist. Demgegenüber handelt es sich bei Straßenblockaden um betriebsfremde Eingriffe, die nicht untrennbar mit dem Straßenverkehr zusammenhängen, sondern letztendlich in der weit überwiegenden Vielzahl der Fälle schlechterdings rechtswidrig sind. Aus diesem Grund ist auch der Schutzzweckzusammenhang zu bejahen und kann eine Haftung für Verdienstausfall- und Kündigungsfolgeschäden angenommen werden.


    3. Fazit

    Gem. § 823 Abs. 1 BGB, § 823 Abs. 2 BGB, § 240 Abs. 1 StGB sind die Aktivisten des Kollektivs für Folgeschäden ihrer Blockadeaktion zivilrechtlich haftbar. Dies könnte ein sinnvoller Weg sein, um die Durchsetzung des Rechts zu effektuieren und nur unzureichend motivierte, zum Teil überlastete Staatsanwaltschaften zu entlasten. In der Praxis begegnet man freilich die Schwierigkeit, die Verantwortlichen dingfest zu machen. Hier helfen nur Auskunftsansprüche gegenüber der Polizei, die zur Datenweitergabe für Zwecke des Forderungseinzugs unter Umständen verpflichtet sein kann. Um allerdings eine praktisch handhabbare Umsetzung zu erreichen, geht nach Ansicht des Unterzeichners kein Weg an dem Pooling solcher Forderungen unter Einschaltung professioneller Rechtsdienstleister vorbei, sollten die Blockaden keine temporäre Erscheinung sein und auch milde Strafrechtsfolgen nicht geeignet sein, an das Recht zu erinnern. Allenfalls für besondere Einzelfälle vermag die zivilrechtliche Haftung dann eine spürbare Steuerungsfunktion entfalten können.


    IV. Ausblick: Unterlassungsanspruch nebst Ordnungsgeld

    Aus diesem Grunde reizvoll erscheint daher auch, mittels einstweiliger Verfügung gegen bekannte Aktivisten vorzugehen und für den Fall der Zuwiderhandlung ein Ordnungsgeld in erheblicher Höhe bzw. die Freiheitsentziehung festzusetzen. Freilich problematisch ist das dezentrale Vorgehen der Täter. Eine Zentralfigur ist, soweit ersichtlich, bislang nicht identifiziert worden. Zudem kann auch eine Untersagungsverfügung nur individuellen Rechtsschutz bieten, nicht aber über Orts- und Stadtgrenzen hinweg für einen reibungslosen Verkehr sorgen. Insoweit dürfte nämlich die grundsätzlich indizierte und erforderliche Wiederholungsgefahr widerlegbar sein.


    Prof. em. Dr. Roland von Gierke

    Entscheidungsanmerkung zu 4 BvT 3/22 - zum merkwürdigen Verständnis der Dringlichkeit


    Am 30.10.2022 hatte das Oberste Gericht über eine vereinsrechtliche Problematik zu entscheiden. Ein Mitglied eines nicht eingetragenen Vereins beantragte aufgrund der Inaktivität des bisherigen Vereinsvorstands gem. § 29 BGB einen Notvorstand zu bestellen. Das Oberste Gericht kam nach oberflächlicher Prüfung - die Vereinssatzung wurde, soweit ersichtlich, erst gar nicht untersucht - zu dem Ergebnis, dass die Voraussetzungen für eine Notbestellung nicht vorlägen, da "nicht ersichtlich" sei, dass der Verein nicht selbst Abhilfe schaffen könne. Es fehle daher an der von § 29 BGB vorausgesetzten Dringlichkeit. Nur am Rande sei angemerkt, dass § 29 BGB entgegen der Auffassung des Gerichts nicht "analog", sondern kraft des § 54 BGB "entsprechend" anzuwenden ist. Anders als bei einer Analogie fehlt es bei der entsprechenden Anwendung einer Vorschrift an einer planwidrigen Regelungslücke; der Gesetzgeber hat den Fall gerade bedacht und die anzuwendenden Regeln ausdrücklich selbst bestimmt.


    Das Gericht geht davon aus, der Verein könne seine Handlungsfähigkeit selbst wiederherstellen. Dies ist leicht widerlegt. Der Vorstand wird gem. § 27 Abs. 1 BGB durch die Mitgliederversammlung bestellt. Diese wiederum wird, soweit die Satzung nicht ein anderes bestimmt, durch den Vorstand einberufen. Es kommt folglich zum Zirkelschluss, wenn das Gericht den Beteiligten sprichwörtlich sagt: "Bestellt doch einfach einen neuen Vorstand". In einer nicht durch das zuständige Organ einberufenen Mitgliederversammlung können keine wirksamen Beschlüsse gefasst werden. Richtig ist, dass die Mitglieder durch das Gericht gem. § 37 Abs. 2 S. 1 BGB dazu ermächtigt werden können, die Mitgliederversammlung einzuberufen. Doch setzt dies schon dem Wortlaut nach ein voriges Verlangen an den Vorstand gem. § 37 Abs. 1 BGB voraus. Ist dieser hingegen inaktiv, läuft dieses Verlangen von vorneherein ins Leere, zumal die Norm eine ausdrückliche Negativentscheidung im Hinblick auf das Verlangen durch den Vorstand erfordert ("Wird dem Verlangen nicht entsprochen"). "Entsprochen" werden setzt dem allgemeinen Begriffsverständnis zufolge eine Entscheidungsmöglichkeit voraus. Auch die Voraussetzungen einer Analogie sind nicht erfüllt. Wegen der vorgesehenen Möglichkeit der Vorstandsnotbestellung fehlt es schon an einer Regelungslücke. Darüber hinaus widerspricht eine teleologische Extension der verbandskörperschaftsrechtlich vorausgesetzten Dualität von Verwaltungsorgan und Mitgliederversammlung: Das Verwaltungsorgan verfügt über die besseren Ressourcen, Verwaltungseffizienz und Überblick, der erforderlich ist, um eine entsprechende Versammlung zu planen und zu strukturieren. Aus diesem Grund ist diese Aufgabe auch dem Verwaltungsorgan vorbehalten (§ 32 Abs. 1 S. 2 BGB, § 121 Abs. 2 S. 1 AktG, § 49 Abs. 1 GmbHG). Das erschließt sich auch praktisch unmittelbar, wenn man die Frage stellt, wie es denn nach der gerichtlichen Ermächtigung weitergehen soll. Ist der zehnte Teil der Mitglieder zur Einberufung ermächtigt, muss sich ebenjene Mitglieder gemeinsam auf eine Tagesordnung verständigen. Insbesondere in Vereinen mit breitem Mitgliederkreis bietet dies nicht nur vermeidbares Konfliktpotential. Es ist auch äußerst zweifelhaft, dass sich eine solche Minderheit jemals zusammenfinden kann, sind doch in sehr vielen Vereinen die weit überwiegende Zahl der Mitglieder lediglich mit Beiträgen unterstützend tätig und sonst eher passiv. Der Unterzeichner weiß aus Erfahrung, dass sich die Motivation von Mitgliedern, gerade in Idealvereinen, zur Teilhabe an "hochoffiziellen Formalitäten" wie der Teilnahme an einem gerichtlichen Verfahren sehr in grenzen hält. Im Gegenteil müssen manche Vereine sogar froh sein die - allerdings statuarisch selbst auferlegte - Beschlussfähigkeitsschwelle in der Mitgliederversammlung zu erreichen.


    Zwar kann das Gericht nach § 37 Abs. 2 S. 1 Hs. 2 BGB Anordnungen zur Führung des Vorsitzes in der Versammlung treffen. Das vermeidet allerdings nicht die Probleme im Vorfeld der Versammlung, namentlich der Einberufung, die nach der gesetzlichen Konzeption eine überragende Bedeutung hat, weil sie die Mitglieder erst zur Entscheidung über Teilnahme und Stimmverhalten befähigt. Nicht ohne Grund sind bestimmte Einberufungsvorschriften im Aktienrecht von derartiger Wichtigkeit, dass ihre Missachtung die Nichtigkeit sämtlicher Beschlüsse zur Folge hat, § 241 Nr. 1 AktG. Ob der zehnte, nicht vorstandserfahrene, Teil, soweit er sich überhaupt zusammenfinden sollte, der Mitglieder ohne juristische Vorkenntnisse in der Lage ist, den ausdifferenzierten Vorgaben etwa der Rechtsprechung zu Einberufungsmängeln Rechnung zu tragen, darf aber bezweifelt werden. Dies ist vor allem deshalb misslich, weil gerade der Idealverein doch zum Ziel haben sollte, ehrenamtliches Engagement und die Verfolgung wohltätiger Zwecke zu fördern, indem eine leicht handhabbare Form körperschaftlicher Betätigung mit haftungsabschirmender Wirkung zur Verfügung gestellt wird.


    Das Gericht verneint kurzerhand einen drohenden Schaden für den Verein und zieht nicht in Betracht, dass ein "Schaden", der vom Wortlaut der Vorschrift im Übrigen nicht gefordert wird, auch in dem Umstand bestehen kann, dass der Verein seinen satzungsmäßigen Zweck nicht verfolgen kann.


    Kommt man hiernach zu dem Ergebnis, dass eine Einberufung durch die Mitglieder jedenfalls aus praktischen Gründen ausscheidet und nimmt man an, dass das Oberste Gericht nicht still und heimlich die Einberufungszuständigkeit in systemwidriger Weise verschieben wollte, mutet das Verständnis des Gerichts von der nach § 29 BGB erforderlichen Dringlichkeit als äußerst merkwürdig an. Das Gericht kann dem Beteiligten letztlich nicht erklären, was er stattdessen machen soll. Es war kein guter Tag für die von Art. 9 GG geschützten Verbandsautonomie.


    Prof. em. Dr. Roland von Gierke

    Gut, ich habe einige Anmerkungen.


    1.

    Selbstverständlich müssen teilbare Bestandteile einer Äußerung auch getrennt voneinander betrachtet werden, sofern nicht ein Teil ohne den anderen verstanden werden kann. Das von Ihnen zitierte Urteil des LG Hamburg hat sich mit einer völlig anderen Situation befasst, nämlich der Bewertung einer groben Herabwürdigung ("Nazi-Schlampe") im satirischen Kontext. Die einzelnen Teile von "Satire" können in der Tat nicht isoliert betrachtet werden, weil dann der satirische Kontext abhandenkäme. Darum geht es hier jedoch nicht.


    2.

    Der Beklagte hat die Äußerungen nach meiner Einschätzung nicht in seiner Rolle als Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen getätigt. Es ist anerkannt, dass Amtswalter sich gleichsam in zwei Sphären äußern können. Wäre es so, wie Sie behaupten, dass die Äußerungen im amtlichen Kontext geschehen sind, wäre die Behauptung, die Klägerin stünde nicht auf dem Boden der Verfassung in der Tat problematisch. Doch so liegt es hier nicht. Vielmehr fehlt jeder Bezug zum Amt des Innenministers. Die bloße Personenidentität begründet keine amtliche Eigenschaft, ansonsten wäre jede politische Stellungnahme vor dem Hintergrund der Anforderungen des Art. 21 GG schon im Ansatz problematisch. Herr Augstein äußerte sich hier als Parteipolitiker. Ich verweise insofern auf die Rechtsprechung zu "Rote Karte für die AfD" und dem Fall Seehofer / AfD. In letzterem Fall lag es so, dass ein abgegebenes Interview an sich nicht genügt, um eine amtliche Äußerung zu begründen. Erst mit der Veröffentlichung des Interviews auf der Seite des Bundesinnenministeriums war dies der Fall.


    3.

    Ob die Äußerungen geeignet sind, einen Schaden zu verursachen, spielt für das Hauptsacheverfahren keine Rolle. Vielmehr hat das Gericht diesbezüglich nur im Hinblick auf den erforderlichen Verfügungsgrund Erwägungen angestellt.


    4.

    Hinsichtlich der behaupteten Einflussnahmen beziehen Sie sich ja nunmehr in erster Linie auf die Erwägung, dass zwar abstrakt eine politische Einflussnahme auf die Tätigkeit von Verwaltungsbehörden vorliege, diese sich aber nicht auf polizeiliche Ermittlungen beziehten. Hierzu ist anzumerken, dass für die Beurteilung einer Äußerung nicht alleine auf den Wortlaut abgestellt werden kann. Zwar mag hier keine Einflussnahme auf Strafverfahren vorliegen wie Sie es behaupten. Doch hierauf beschränkt sich das Wort "Ermittlungen" nach meinem Dafürhalten nicht. Vielmehr ist die Verarbeitung von Daten nicht nur Teil der repressiven Strafverfolgung, sondern auch der präventiven, klassischen Polizeiarbeit. Ermittlungen können in diesem Zusammenhang als laufende Vorgänge verstanden werden, die sich auf das polizeiliche Aufgabenfeld beziehen. Nach dem allgemeinen Wortsinn "ermitteln" nicht nur Strafverfolgungsbehörden. "Ermitteln" kann auch einen Suchvorgang oder - abstrakter - eine Aufklärung von Tatsachen oder Vorbereitung behördlicher Entscheidungen bezeichnen.


    5.

    Was die Verfassung ausmacht, was in diesem Sinne ihr "Boden" bzw. FUndament ist, kann nur im Wege der Auslegung und einer Gesamtschau der einschlägigen BEstimmungen ermittelt werden. Auslegung von Rechtsnormen ist kein empirischer, sondern ein normativer Prozess, der von Wertungen und Vorverständnissen abhängt. So mag der Beklagte der Auffassung sein, der angestrebte Umgang der Klägerin mit Eigentum verstoße gegen Art. 14 GG (einem liberalen Freiheitsrecht mit großer Tradition), wohingegen Sie eine andere Auffassung vertreten mögen. Dies kann nicht im Wege einer Beweisaufnahme entschieden werden. Nicht gleichzusetzen mit der Behauptung, eine Partei stehe nicht auf dem Boden der Verfassung ist die Behauptung, eine Partei wolle die FDGO beseitigen. Letzteres geht insofern über die bloße - unterstellte - Verfassungswidrigkeit hinaus, als dass sie verfassungsfeindlich ist und sich durch eine aktiv-kämpferische Haltung auszeichnet. Diesbezügliche Vorwürfe kann ich der Äußerung nicht entnehmen.

    Das verstehen wir dann so, dass Sie an der hiesigen Klage festhalten. Macht sich entsprechende Notizen.


    Nach unserer Auffassung ist die Sache hinreichend erörtert worden. Bevor sich das Gericht zur Entscheidungsfindung zurückzieht, mögen die Parteien sich letztmalig überlegen, ob hier eine vergleichsweise Lösung ohne Urteil für sie in Betracht kommt. Das Gericht ist dabei gerne bereit, einen entsprechenden Vergleich vorzuschlagen. Harald F. Rache  Dr. Viktoria Christ-Mazur

    Wenn das so ist, wie Sie es sagen, muss ein durchschnittlicher Betrachter die Grafik dann aber nicht eher als einen warnenden Appell nebst Tatsachenkern, denn als überzeichnende Satire begreifen? Denn nach den geschilderten Darstellungen und deren Bewertung - insbesondere der "Exilregierung" wie Sie den Vorgang bezeichnet haben - ist der Unterschied von FFD und NSDAP nicht mehr allzu groß, zumindest wenn man auf die frühen Jahre der NSDAP abstellt und freilich nicht die gefestigte nationalsozialistische Herrschaft. Ich frage nach, weil ich dazu tendiere, eine Äußerung umso eher für zulässig zu halten, je offensichtlicher sie die tatsächliche Lage überzeichnet, weil der durchschnittliche Betrachter diese Meinungsäußerung als solche identifizieren kann und keine tatsachenbehauptungsähnliche Suggestionen hervorgerufen werden. Im Übrigen ist eine Grafik selbstverständlich nicht schon deswegen als Satire zu bewerten, weil sie Adolf Hitler abbildet.

    Wendet sich der Beklagtenvertreterin zu.


    Frau Dr. Christ-Mazur, ich bin etwas verwirrt. In Ihrem Eingangsstatement haben Sie mit Nachdruck behauptet, bei der Grafik handele es sich um bewusst überspitzende Satire. Gleichzeitig tragen Sie vor, dass es massive Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Klägerin rechtsextrem und verfassungsfeindlich sei. Finden Sie nicht, dass sich dies widerspricht oder zumindest die Grafik weniger als Satire erscheinen lässt, wenn Satire gerade von Überzeichnung lebt?

    Runzelt kritisch die Stirn.


    In keinem Gesetz findet sich eine persönliche (Straf-)Haftung der Organmitglieder für zugerechnetes Verschulden der juristischen Person Herr Rache! Organmitglieder haften strafrechtlich nur für eigene Handlungen. Das ändert des Weiteren nichts daran, dass Sie nunmal die Berliner Allgemeine SE und nicht irgendein Organmitglied beklagen. Ich muss Sie daher erneut fragen, ob Sie an der Klage gegen die Berliner Allgemeine SE festhalten oder ein Organmitglied beklagen möchten. Für den letzteren Fall empfehle ich ihnen die Rücknahme der Klage. In diesem Verfahren ist ausschließlich die Verantwortlichkeit der Berliner Allgemeine SE streitgegenständlich.


    Sollten Sie an der Klage gegen die Berliner Allgemeine SE festhalten weist das Gericht auf Folgendes hin:


    In Vorbereitung auf die Verhandlung hat sich das Oberste Gericht umfangreich mit der Frage beschäftigt, ob die ordnungswidrigkeitenrechtliche Verbandshaftung (§ 30 OWiG) für Organe und andere Leitungspersonen im Wege der Privatklage geltend gemacht werden kann. Eine strafrechtliche Verantwortung juristischer Personen scheidet nämlich unstreitig aus. Das Oberste Gericht neigt derzeit dazu, diese Frage jedenfalls dann zu bejahen, wenn das Organmitglied oder die Leitungsperson ein Delikt begangen hat, das grundsätzlich der Privatklage unterliegt. Maßgeblich sind aus Sicht des Gerichts folgende Gesichtspunkte:


    1. Das Gesetz über das Oberste Gericht erteilt diesem einen umfassenden Rechtsprechungsauftrag, der sich auf das Strafrecht bezieht. Dieser Begriff des Strafrechts ist aus Sicht des Gerichts so auszulegen wie in Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Dort meint "Strafrecht" unstreitig auch das Ordnungswidrigkeitenrecht in materieller und formeller Hinsicht.


    2. Das Interesse des Verletzten bei den privatklagefähigen Delikten ein staatliches Unwerturteil in Gestalt einer Sanktion zu erzielen ist gegenüber einer juristischen Person gleichermaßen gegeben. Dies ist gerade Ausdruck der Gleichstellungsfunktion des § 30 OWiG. Auch im bürgerlichen Recht ist völlig unstreitig, dass eine juristische Person nicht besser stehen darf als eine natürliche Person.


    3. Schließlich sprechen auch praktische Erwägungen für eine solche Regelung, denn auf der Plattform steht es jedem Mitspieler frei, im Rahmen eines Medienaccounts eine juristische Person zu simulieren. Dies darf nicht dazu führen, dass Äußerungen dieses Medienaccounts weniger justiziabel sind. Derartige Verfahren nehmen eine Doppelstellung ein. Einerseits dienen sie der Simulation von Rechtspolitik. Andererseits dienen sie praktisch auch zur Befriedung von Konflikten, die (noch) nicht die Schwere oder das Ausmaß angenommen haben, dass sie Sache von Moderation oder Administration wären. Diese Reservefunktion des Obersten Gerichts hängt schlechterdings nicht davon ab, ob sich ein Account als eine natürliche oder juristische Person ausgibt.


    Ich erteile zunächst dem Kläger das Wort zur Stellungnahme.

    OBERSTES GERICHT



    – 3 BvE 3/21 –



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    IM NAMEN DES VOLKES





    In dem Verfahren

    über

    die Anträge festzustellen,





    1. dass der dass der Antragsgegner durch die Nichtausfertigung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Brennstoffemissionshandelsgesetzes die Rechte der Antragstellerin zu 1. aus Art. 76 Abs. 1 i.V.m. Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt hat;

    2. dass der Antragsgegner durch die Nichtausfertigung des Ersten Gesetzes zur Änderung des Brennstoffemissionshandelsgesetzes die Rechte des Deutschen Bundestages aus Art. 77 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und 2, Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt hat;



    u n d Antrag auf Richterablehnung





    Antragsteller:

    1. Bundesregierung, vertreten durch den Bundesminister für Klima, Umwelt, Energie und Landwirtschaft, Magus Gruensen

    2. Fraktion der G
    rünen im Deutschen Bundestag, vertreten durch den Fraktionsvorsitzenden, Marius Wexler

    3. Fraktion der Sozialdemokratischen Partei im Deutschen Bundestag, vertreten durch die Fraktionsvorsitzende, Dr. Theresa Klinkert



    - Bevollmächtigter: Dr. Joachim Holler





    Antragsgegner:

    Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Herr Hajime Nagumo

    Spreeweg 1, 10557 Berlin





    hat das Oberste Gericht – Dritter Senat –



    unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter



    Vizepräsident Gierke,



    Müller,



    Schlupp





    am 5. Dezember 2021 einstimmig beschlossen:





    1. Der Anträge zu 1. und 2. werden als unzulässig abgelehnt.



    2. Das Ablehnungsgesuch gegen den Richter Thälmann wird als unzulässig verworfen.





    G r ü n d e :



    Die Antragsteller haben das Oberste Gericht um Rechtsschutz nachgesucht mit dem Ziel, festzustellen, dass ihre verfassungsmäßigen Rechte dadurch verletzt wurden, dass es der Antragsgegner unterlassen habe, ein von der Antragstellerin zu 1. eingebrachtes und von dem Antragsteller zu 2. beschlossenes Gesetz, das bereits Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung gewesen ist, auszufertigen.





    A.



    I.



    1. Der Deutsche Bundestag hat am 2. Juni 2021 den durch die Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Brennstoffemissionshandelsgesetzes angenommen. Der Bundesrat hingegen hat, festgestellt am 27. Juli 2021, auf die Erhebung eines Einspruches gegen diesen Entwurf verzichtet, sodass das beschlossene Gesetz dem Bundespräsidenten zur Ausfertigung übersandt wurde. Dieser gab in einer offiziellen Mitteilung am 10. August 2021 bekannt, jenes Gesetz aufgrund der Unvereinbarkeit des Gesetzes mit dem Grundgesetz nicht ausfertigen zu wollen.



    2. Mit Urteil vom 4. Juli 2021 hat der Dritte Senat des Obersten Gerichts das Brennstoffemissionshandelsgesetz in der damals gültigen Fassung für teilweise mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig erklärt (OG, Urteil vom 4. Juli 2021 - 3 BvF 1/21). Das Gericht urteilte, dass die in der vom Gesetz vorgesehenen Einführungsphase bis zum Jahr 2026, in der die Emissionszertifikate zum Festpreis verkauft werden sollen, mit dem Grundgesetz unvereinbar sei, da keine mengenmäßige Begrenzung der Emissionszertifikate erfolgt worden sei. Es fehlte, zur Ausgestaltung der Abgabe als Vorteilsabschöpfungsabgabe, die notwendige Entstehung eines individuellen Sondervorteils durch den Erwerb der Emissionszertifikate.







    II.



    Der Antragsteller halten die Anträge für zulässig (1.) und begründet (2.) und machen grundsätzlich Folgendes geltend:





    1. Die Antragsteller halten die Anträge für zulässig.



    a) Die Antragstellerin zu 1. könne geltend machen, durch die Nichtausfertigung des streitgegenständlichen Gesetzes in ihren grundgesetzlich verankerten Rechten verletzt zu sein. Eine Verletzung dieser Rechte sei nicht ex ante auszuschließen. Auch sei die Antragsbefugnis der Antragstellerin zu 1. nicht deshalb entfallen, weil zwischenzeitlich eine andere Bundesregierung gewählt wurde. Das Grundgesetz differenziere nicht zwischen Kabinetten, sodass die personelle Besetzung der Bundesregierung in ihrer Stellung als ständiges Verfassungsorgan für die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren nicht maßgeblich sei. Es bestehe auch ein Rechtsschutzinteresse, weil die Sache noch nicht erledigt sei und Wiederholungsgefahr bestehe.



    b) Die Antragstellerinnen zu 2. und 3. seien ebenso in ihren grundgesetzlich verankerten Rechten verletzt. Sie könnten die Rechte des Deutschen Bundestages im Zuge der Prozessstandschaft geltend machen. Die zwischenzeitliche Neuwahl des Bundestages sei dabei unschädlich, da auch der Bundestag ein ständiges Verfassungsorgan sei und stets die Möglichkeit haben müsse, kompetenzrechtliche Fragen vor dem Obersten Gericht klären zu lassen. Das Rechtsschutzinteresse des Bundestages sei nicht bei seiner Neuwahl entfallen, da der Bundestag ein erhebliches Interesse daran habe, die Frage zu klären, ob die Nichtausfertigung durch den Antragsgegner mit dem Grundgesetz vereinbar war. Hilfsweise sei auch ein besonderes Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu bejahren, soweit sich die Sache in der Zwischenzeit erledigen würde.





    2. Die Antragsteller halten die Anträge auch für begründet.



    a) aa) Die Bundesregierung habe gemäß Art. 76 Abs. 1 GG das Recht, Gesetzesvorlagen beim Bundestag einzubringen. Nach den grundgesetzlichen Vorschriften zustandegekommenen Gesetze seien daraufhin gemäß Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG durch den Bundespräsidenten durch Gegenzeichnung auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Zwar ergebe sich hinsichtlich der Antragstellerin zu 1. aus dem Grundgesetz folglich nach Wortlaut nur das Recht zur Gesetzgebungsinitiative, zur Wahrung des Demokratieprinzips aus Art. 20 Abs. 1 GG sei hieraus jedoch auch das Recht der Bundesregierung abzuleiten, dass von ihr eingebrachte Gesetzentwürfe, die nach den Vorschriften des Grundgesetzes durch Bundestag und ggf. Bundesrat beschlossen wurden, auch in Kraft treten und entsprechend Rechtswirkung entfalten. Voraussetzung hierfür sei gerade die Ausfertigung und Verkündung im Bundesgesetzblatt durch den Bundespräsidenten.



    bb) Dies gelte auch für den Deutschen Bundestag. Dieser bzw. seine Mitglieder hätten ebenso das Gesetzesinitiativrecht. Aus Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG ergebe sich das Recht des Bundestages, dass von ihm ordnungsgemäß beschlossene Gesetze auch in Kraft treten und durch den Bundespräsidenten ausgefertigt werden. Das Nicht-Zustandekommen eines Gesetzes, das durch den Deutschen Bundestag, mithin das einzige direkt gewählte oberste Verfassungsorgan des Bundes, beschlossen wurde, bedürfe einer besonderen sachlichen Rechtfertigung, da dies einen erheblichen Eingriff in das Prinzip der Volkssouveränität und das Demokratieprinzip darstelle.





    b) Die Nichtausfertigung des streitgegenständlichen Gesetzes stelle einen Eingriff in die grundgesetzlichen Rechte der Antragsteller dar. Der Eingriff sei schon deshalb gegeben, weil der Antragsgegner nach Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG dazu verpflichtet sei, die nach dem Grundgesetz zustandegekommenen Gesetze auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Aus der Missachtung dieser Pflicht ergäbe sich der unzulässige Eingriff in die Rechte der Antragsteller.





    c) Der Antragsgegner habe insgesamt keine materielle Prüfungskompetenz bei der Entscheidung, ob er ein Gesetz ausfertige.



    aa) Dafür spreche schon die Wortlautinterpretation des Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG. Jener sei im Grundgesetz schon systematisch so positioniert, dass er noch in den Bereich der Gesetzgebund des Bundes falle. Dieser Bereich befasse sich überwiegend mit der formellen Gesetzgebung. Eine Prüfung auf inhaltlicher Basis sei daher vom Verfassungsgeber nicht gewollt gewesen, mithin hätte er es aufgrund der genannten Systematik zumindest ausdrücklich erwähnen müssen.



    bb) Auch nach der historische Betrachtung des Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG könne dem Bundespräsidenten kein materielles Prüfungsrecht zukommen. Zwar wurde aus Art. 70 Weimarer Reichsverfassung ein materielles Prüfungsrecht des Bundespräsidenten anerkannt, jedoch habe sich die Stellung des Bundespräsidenten sowie auch das verfassungsmäßige Umfeld seitdem erheblich gewandelt. Der Bundespräsident sei nunmehr nicht wie damals direkt vom Volk gewählt und demokratisch legitimiert, sondern sei bewusst mit überwiegend repräsentativen Ausgaben ausgestattet. Dem Bundespräsidenten komme auch eine erheblich schwächere Stellung zu als dem damaligen Reichspräsidenten.



    cc) Auch bei systematischer Auslegung sei ein materielles Prüfungsrecht zu verneinen. Weder aus dem Amtseid des Bundespräsidenten aus Art. 56 GG noch aus der Möglichkeit der Bundespräsidentenanklage nach Art. 61 GG lasse sich ein materielles Prüfungsrecht konstruieren. Zwar sei der Bundespräsident dazu verpflichtet, das Grundgesetz zu wahren, jedoch sei die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze dem Obersten Gericht vorbehalten. Dies sei schon hinsichtlich des Rechtsstaatlichkeitsprinzips aus Art. 20 GG geboten. Zweifle der Bundespräsident lediglich an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes, so entbinde ihn das nicht von der Pflicht, das Gesetz auszufertigen. Viel mehr sei der Umweg über eine Ex-post-Prüfung durch das Oberste Gericht für die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit zu gehen. Wäre die Verfassungswidrigkeit des auszufertigenden Gesetzes evident, so könne er jedoch unter Umständen die Ausfertigung verweigern. Die Gesetzgebung sei dennoch der Legislative und der Judikative vorbehalten, die Kompetenzen des Bundespräsidenten im Gesetzgebungsprozess seien entsprechend eng zu bemessen.





    d) Hilfsweise, soweit dem Bundespräsident eine materielle Prüfungskompetenz zustünde, sei die Nichtausfertigung unzulässig gewesen.



    aa) Das streitgegenständliche Gesetz sei nicht offensichtlich verfassungswidrig gewesen. Zwar habe das Oberste Gericht in seiner Entscheidung zum Brennstoffemissionshandelsgesetz das Fehlen der mengenmäßigen Begrenzung der Emissionszertifikate beanstandet, jedoch ergäbe sich der individuelle Sondervorteil durch dem Umstand, dass die Festpreise der Zertifikate so weit gesteigert werden sollen, dass finanziell schwächere Unternehmen nicht mehr die finanzielle Möglichkeit hätten, hinreichend viele Zertifikate zu erwerben. Es sei zumindest fraglich, ob die Ausgestaltung des Zertifikatehandels nach dem Festpreismodell so verfassungsgemäß ausgestaltet worden sei. Jedoch lasse der Antragsgegner eine hinreichende Auseinandersetzung mit dieser Möglichkeit vermissen.



    bb) Weiter seien die Antragsteller in ihren Rechten verletzt, da es der Antragsgegner unterlassen habe, die Nichtausfertigung des streitgegenständlichen Gesetzes hinreichend zu begründen. Der kurze Hinweis des Bundespräsidenten, dass sich das Änderungsgesetz „beinahe ausschließlich mit § 10 Absatz 2 Satz 2 und 4“ befasse, „ohne aber diese mit dem Grundgesetz vereinbar zu machen“, sei jedenfalls nicht ausreichend, um einen derart massiven Eingriff in die Rechte der Antragstellerinnen zu begründen. Der Antragsgegner trage dazu nicht vor, warum die Verfassungsmäßigkeit so offensichtlich zu verneinen sei, dass die Nichtausfertigung gerechtfertigt werden könne. Auch eine gesonderte ausführlichere Begründung an die Bundesregierung oder den Deutschen Bundestag hätte es nicht gegeben. Schließlich sei die Begründung des Antragsgegners auch für die Öffentlichkeit unzureichend gewesen, da diese kaum nachvollziehen könne, warum die Ausfertigung des Gesetzes verweigert wurde. Das Erfordernis einer solchen Begründung schütze demnach vor willkürlichen Nichtausfertigungen durch den Bundespräsidenten.





    e) Das Richterablehnungsgesuch sei begründet, da der Richter Thälmann gemäß Doppelaccountregister derselbe Spieler sei wie der Antragsgegner. Eine unparteiliche und unvoreingenommene Ausübung des Richteramtes sei unmöglich und das Ablehnungsgesuch demnach begründet.









    B.



    Die Anträge sind unzulässig.





    I.



    Die Anträge sind unzulässig (I)., wären jedoch auch nicht begründet gewesen (II.).



    1. Der Antragstellerin zu 1. fehlt es schon an der Antragsbefugnis. Art. 82 Abs. 1 GG begründet kein konkretes Verfassungsrechtsverhältnis, aus dem sich Rechte und Pflichten zwischen der Bundesregierung und dem Bundespräsidenten ergeben. Die Rolle der Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren erschöpft sich in einem Initiativrecht. Nur dieses Verständnis wird dem Grundsatz der Gewaltenteilung gerecht, wonach die Gesetzgebung der Legislative und nicht der Antragstellerin zu 1. zugewiesen ist. Dass die Weigerung, das antragsgegenständliche Gesetz auszufertigen, Kompetenzen der Antragstellerin zu 1. berührt, ist auch nicht unter dem vorgebrachten Gesichtspunkt des Demokratieprinzip erkennbar. Die Mitwirkungsbefugnisse der Antragstellerin zu 1. wurden vollumfänglich gewahrt.



    2. Den Antragstellern ermangelt aber auch an dem notwendigen Rechtsschutzinteresse. Mit der Ausfertigung des Brennstoffemissionshandelsgesetzes vom 16.10.2021 hat sich der Streitgenstand erledigt und wurde das Rechtsschutzziel der Antragsteller der Sache nach erreicht. In der Rechtsprechung des Obersten Gerichts ist es zwar anerkannt, dass nach dem Rechtsgedanken des § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO trotz Erledigung des streitgegenständlichen Begehrens das Rechtsschutzinteresse fortbestehen kann, wenn ein berechtigtes Interesse an der nachträglichen Feststellung der Rechtsverletzung besteht. Dies kann indes nur unter hohen Voraussetzungen angenommen werden. Es müsste konkret dargelegt werden, dass entweder die Gefahr einer Wiederholung der Rechtsverletzung besteht oder das Verfahren Verfassungsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft. Beides ist hier nicht der Fall. Eine Wiederholungsgefahr ist schon deswegen nicht erkennbar, weil das Amt des Bundespräsidenten anderweitig besetzt wurde. Fragen zur materiellen Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten hat das Oberste Gericht bereits geklärt.



    3. Das Ablehnungsgesuch gegen den Richter Thälmann ist ebenso als unzulässig zu verwerfen, da der Richter zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung durch das Oberste Gericht seine Tätigkeit am Obersten Gericht bereits beendet hat. Mit der Beendigung der Tätigkeit des Richters am Obersten Gericht erledigt sich auch das Richterablehnungsgesuch.







    II.



    Obiter dictum ist Folgendes anzumerken:



    Eine Rechtsverletzung des Antragstellers zu 2. ist zwar nicht von vorneherein unter jedem denkbaren Gesichtspunkt ausgeschlossen. Der Antrag wäre vor seiner Erledigung mithin zulässig gewesen. Hingegen wäre er nicht begründet gewesen. Dem Bundespräsidenten steht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der überwiegenden Auffassung in der Literatur ein auch materielles Prüfungsrecht für die vom Bundestag beschlossenen Gesetze zu. Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen, sieht das Gericht vorliegend nicht und vermag der Antragsteller auch nicht vorzubringen.



    Das Prüfungsrecht berechtigt den Bundespräsidenten nicht zu einer umfassenden Rechtskontrolle. Dies ist alleine Aufgabe des Obersten Gerichts. Demzufolge ist das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten beschränkt auf solche Rechtsverstöße, die sich einem sachkundigen, juristisch gebildeten Beobachter geradezu aufdrängen, also evident sind. Den Antragstellern ist zuzugeben, dass dieses Kriterium nicht mit syllogistischer Schlüssigkeit konkretisiert werden kann. Ausgehend von der Ratio der Einschränkung kommt es auf die Stellung des Obersten Gerichts im Verhältnis zum Bundespräsidenten und den anderen Verfassungsorganen an. Es steht dem Bundespräsidenten nicht zu, seine Rechtsauffassung an die Stelle des Obersten Gerichts zu setzen. Zugrunde gelegt werden muss daher die Rechtsprechung des Obersten Gerichts: Ein Verfassungsverstoß ist umso evidenter, je eher sich das Oberste Gericht mit einer bestimmten Frage befasst und einschlägige Leitlinien aufgestellt hat. Glaubte der Bundespräsident in diesem Zusammenhang daher, ohne dass es auf die Beantwortung dieser Frage für das vorliegende Verfahren ankommt, die Maßgaben des Obersten Gerichts umzusetzen, ist hierin - bei unterstellter Verfassungswidrigkeit des Gesetzes - keine Infragestellung des Auslegungs- und Verwerfungsmonopols zu sehen. Vielmehr sah sich der Antragsgegner an die Entscheidung des Obersten Gerichts, die nicht nur in ihrem Tenor alle staatliche Gewalt zu verpflichten vermag, gebunden.



    Die Entscheidung ist unanfechtbar.











    Gierke | Müller | Schlupp

    tritt vor und nimmt die Ernennungsurkunde entgegen. Die rechte Hand hebend spricht er den Eid:


    "Ich schwöre, dass ich als gerechter Richter allezeit das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland getreulich wahren und meine richterlichen Pflichten gegenüber jedermann gewissenhaft erfüllen werde. So wahr mir Gott helfe."


    Nickt dem Bundespräsidenten anschließend zu und gibt Frau Dr. Schlupp Gelegenheit, vorzutreten.