3 BvT 3/22 - Erfolgloser Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bzgl. einer Popularklage gegen § 166 StGB

  • OBERSTES GERICHT

    – 3 BvT 3/22 –


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    IM NAMEN DES VOLKES



    In dem Verfahren
    zu der verfassungsrechtlichen Prüfung,



    ob § 166 StGB in der Fassung des Gesetzes vom 02. März 1974 (BGBl. I S. 469) mit Artikel 103 Absatz 2 GG unvereinbar und nichtig ist


    Antragstellerin:

    Frau Dr. iur Irina Christ MdB,

    97078 Würzburg-Versbach


    h i e r : Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung u n d Richterablehnungsgesuch


    hat das Oberste Gericht – Dritter Senat –

    unter Mitwirkung der Richterinnen und Richter


    Vizepräsident Neuheimer,


    Geissler



    am 13. September 2022 einstimmig beschlossen:



    1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.


    2. Das Ablehnungsgesuch gegen die Richterin Siebert wird als unzulässig verworfen.



    Gründe:


    Die mit einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und einem Richterablehnungsgesuch verbundene Popularklage der in Würzburg wohnhaften Antragstellerin, die zugleich Mitglied des Deutschen Bundestages ist, wendet sich gegen § 166 des Strafgesetzbuches (StGB). Die Antragstellerin rügt dabei einen Verstoß der angegriffenen Norm gegen das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.


    Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehrt die Antragstellerin, im Wege der vorläufigen Regelung anzuordnen, dass § 166 StGB bis zur Entscheidung in der Hauptsache außer Vollzug gesetzt wird. Das Richterablehnungsgesuch richtete sich gegen die Richterin Siebert.


    I.


    1. Der Wortlaut der Norm, gegen die sich die Popularklage wendet, lautet wie folgt:


    㤠166 StGB РBeschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen


    (1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

    (2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.“



    2. Die Antragstellerin hält die Klage mit ihrem Schriftsatz vom 21. August 2022 für zulässig und begründet.


    a) Art. 103 Abs. 2 GG gewährleiste, dass nur eine Tat bestraft werden kann, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dies verpflichte den Gesetzgeber, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so genau zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände für den Normadressaten schon aus dem Gesetz selbst zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln und konkretisieren lassen (vgl. BVerfGE 73, 206 <234>; 75, 329 <340>; 78, 374 <381 f.>; 105, 135).


    Es müsse einzig und allein vom Handeln der Bürgerinnen und Bürger - und nicht etwa von den Strafgerichten - abhängen, ob eine Tat strafrechtlich zu verfolgen sei. Art. 103 Abs. 2 GG sorge dafür, dass allein der Gesetzgeber abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheiden könne (BVerfGE 75, 329 <341>; 78, 374 <382>; 95, 96 <131>; 105, 135). Dieser sei deshalb von Verfassungs wegen verpflichtet, die Grenzen der Strafbarkeit selber zu bestimmen.



    b) Unter Anwendung dieser Maßstäbe verstoße § 166 StGB gegen das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.


    aa) Schon der Term "beschimpfen" werde den Anforderungen des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebotes nicht gerecht, da nicht ersichtlich sei, wann ein Beschimpfen eine hinreichende Qualität aufweise, um den Tatbestand der angegriffenen Norm zu erfüllen. Dies hinge im Einzelfall von der Bewertung des Gerichts ab. Es würde den Bürgerinnen und Bürgern somit unmöglich gemacht, ihre Äußerungen so auszurichten, dass eine Strafverfolgung unterbleibt.


    bb) Auch die Formulierung "öffentliche[r] Frieden" sei zu vage, da es von der Interpretation des Begriffes abhänge, ob der Tatbestand des § 166 StGB im Einzelfall erfüllt sei und der Begriff des "öffentliche[n] Friedens" keiner eindeutigen Definition zugänglich sei.


    cc) Die angegriffene Norm sei daher verfassungswidrig und für nichtig zu erklären. Eine bloße Unvereinbarkeitserklärung komme nicht in Betracht, da die Voraussetzungen hierfür nicht gegeben seien, da die Nachteile, die durch das Außerkrafttreten der Norm entstünden, nicht eindeutig gegenüber den Nachteilen eines befristeten Weitergeltens der angegriffenen Norm überwögen.



    c) Auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sei begründet, da die durchzuführende Folgenabwägung zu Lasten der angegriffenen Norm ausfiele.


    aa) Die einstweilige Anordnung diene zur Abwehr schwerer Nachteile, da bei Nichterlass derselben die Möglichkeit bestünde, dass weitere Personen aufgrund einer verfassungswidrigen Norm verurteilt würden.


    bb) Die Nachteile, die entstünden, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, sich der Antrag in der Hauptsache aber als unbegründet erwiese, unterlägen hierbei, da zwar der staatliche Verfolgungsanspruch gegenüber strafrechtlich relevantem Verhalten temporär entfiele, dieser aber nach der Verkündung des Urteils in der Hauptsache wiederhergestellt würde und eine Verjährung aufgrund der Verfahrensdauer nicht zu erwarten sei.



    d) Das Ablehnungsgesuch sei begründet, da zwischen Richterin Siebert und Frau Dr. Kerstin Siegmann gem. Doppelaccountregister Personenidentität bestünde. Letztere habe in der Bundestagsdebatte zur Abschaffung des § 166 StGB (vgl. BT-Drs. XII/030) den festen und unerschütterlichen Wunsch zur Beibehaltung der besagten Norm geäußert. Sie sei daher hinsichtlich des vorliegenden Verfahrens nicht unvoreingenommen.



    3. Richterin Siebert hat sich unmittelbar nach Eingang der Klageschrift für befangen erklärt.




    II.


    Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung bleibt ohne Erfolg.


    1. a) Durch eine einstweilige Anordnung darf die Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden (vgl. BVerfGE 34, 160 <162>; 46, 160 <163 f.>; 67, 149 <151>; 147, 39 <46 f. Rn. 11>; 152, 63 <65 Rn. 5>; stRspr), denn sie soll lediglich einen Zustand vorläufig regeln, nicht aber die Hauptsache präjudizieren (vgl. BVerfGE 8, 42 <46>; 15, 219 <221>; 147, 39 <47 Rn. 11>; 152, 63 <66 Rn. 5>). Unzulässig ist ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung daher regelmäßig dann, wenn es der Antragstellerin um eine eilige Entscheidung über die im Hauptsacheverfahren angegriffene Maßnahme und nicht nur um eine vorläufige Regelung geht (vgl. BVerfGE 147, 39 <47 Rn. 11>; 152, 63 <66 Rn. 5>). Eine unzulässige Vorwegnahme der Hauptsache ist anzunehmen, wenn der beantragte Inhalt der einstweiligen Anordnung und das Rechtsschutzziel in der Hauptsache, wenn nicht deckungsgleich, so doch zumindest vergleichbar sind, wenn also die stattgebende einstweilige Anordnung mit dem Zeitpunkt ihres Erlasses einen Zustand in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht zu verwirklichen erlaubt, der erst durch die zeitlich spätere Entscheidung in der Hauptsache hergestellt werden soll (vgl. BVerfGE 147, 39 <47 Rn. 12>; 152, 63 <66 Rn. 6>).


    Die Vorwegnahme der Hauptsache steht indes der Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ausnahmsweise dann nicht entgegen, wenn eine Entscheidung in der Hauptsache voraussichtlich zu spät käme und dem Antragsteller in anderer Weise ausreichender Rechtsschutz nicht mehr gewährt werden könnte (vgl. BVerfGE 34, 160 <163>; 67, 149 <151>; 108, 34 <40>; 130, 367 <369>; 147, 39 <47 Rn. 11>; 152, 63 <66 Rn. 5>; stRspr).


    b) aa) Nach § 18 Abs. 1 OGG kann das Oberste Gericht einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei haben die Gründe, die für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die Klage wäre von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet (vgl. BVerfGE 7, 367 <371>; 68, 233 <235>; 71, 158 <161>; 79, 379 <383>; 91, 140 <144>; 103, 41 <42>; stRspr).


    bb) Wenn die Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes begehrt wird, ist bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegen, ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Das Oberste Gericht darf von seiner Befugnis, ein Gesetz außer Kraft zu setzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, ist doch der Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen ein Gesetz stets ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Die Gründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechen, müssen daher im Vergleich zu Anordnungen, die weniger schwer in die Interessen der Allgemeinheit eingreifen, bei Gesetzen ganz besonderes Gewicht haben (vgl. BVerfGE 46, 337 <340>; 85, 167 <171>; 104, 23 <27 f.>; 104, 51 <55 f.>; 117, 126 <135>; 122, 342 <361 f.>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 26. August 2015 - 2 BvF 1/15 -, juris, Rn. 12; Beschluss des Ersten Senats vom 6. Oktober 2015 - 1 BvR 1571/15 u.a. -, juris, Rn. 13; stRspr). Zudem rechtfertigen schwere Nachteile oder ein anderer wichtiger Grund für sich eine einstweilige Anordnung noch nicht. Ihr Erlass muss zur Abwehr der Nachteile auch unter Berücksichtigung der erforderlichen Zurückhaltung des Senats dringend geboten sein.



    2. Nach diesen Maßstäben ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.


    Der Antrag im Hauptsacheverfahren ist zwar nicht offensichtlich unzulässig oder unbegründet, aber auch nicht offensichtlich begründet. Der Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist somit offen. Jedoch verstößt der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gegen das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache (a). Dazu wird, unter Berücksichtigung des anzulegenden besonders strengen Maßstabes, auch der entstehende schwere Nachteil bei Nichterlass der einstweiligen Anordnung nicht hinreichend qualifiziert dargelegt (b).


    a) Die Antragstellerin begehrt durch den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gerade eine möglichst eilige Entscheidung über die im Hauptsacheverfahren zu entscheidende Maßnahme. Der Inhalt der einstweiligen Anordnung und des Antrages in der Hauptsache sind zwar nicht deckungsgleich, aber in rechtlicher Hinsicht äquivalent. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch nicht dennoch ausnahmsweise zulässig, da die Antragstellerin selbst gar kein subjektives Rechtsschutzinteresse geltend macht, sondern im Wege der Popularklage eine objektive Prüfung der angegriffenen Norm begehrt.


    b) Auch genügt die allgemeine Behauptung, dass einem unbestimmten Personenkreis mutmaßlich ein Nachteil bei Nichterlass der einstweiligen Anordnung entstünde, den hohen Begründungsanforderungen, die an eine einstweilige Anordnung zu stellen sind, die auf die Außervollzugsetzung einer Norm zielt, nicht. Schwere, der Allgemeinheit zu Lasten gehende Nachteile durch das fortgelten der Norm bis zum Urteil in der Hauptsache werden durch die Antragstellerin nicht hinreichend substantiiert vorgetragen. Insbesondere trägt die Antragstellerin auch nicht vor, dass die geschilderten Nachteile für den unbestimmten Personenkreis so unzumutbar wären, dass eine Außervollzugsetzung der angegriffenen Norm und damit ein erheblicher Eingriff in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers durch das Oberste Gericht gerechtfertigt wäre.



    III.


    Mit der Selbstablehnung der Richterin Siebert nach § 11 Abs. 1, 3 OGG hat sich das Richterablehnungsgesuch gegen die Richterin erledigt.



    Neuheimer | Geissler


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    Prof. Dr. Robert Geissler

    - Vizepräsident des Obersten Gerichts -